Die Impulse kamen von der anderen Seite des Großen Teichs, vom Autorenkino aus Europa, wo die neuen Besen der Nouvelle Vague gerade die Spuren suchenden und verarbeitenden Nachkriegsstoffe von der künstlerischen Bühne kehrten. Ein Indiz dafür ist auch, dass das von David Newman und Robert Benton, zweier Journalisten vom Herren-Magazin „Esquire“, verfasste Drehbuch zu „Bonnie und Clyde“ (1967) zunächst einen Umweg über die Stationen Francois Truffaut („Jules und Jim“) und Jean-Luc Godard (Außer Atem) machte, bevor es zu Arthur Penn gelangte. Der Regisseur aus Philadelphia, bekannt als Chronist amerikanischer Geschichte und Befindlichkeiten, verfilmte die bleihaltige Banditen-Ballade, leitete damit das New Hollywood und die Abkehr vom „sauberen“ US-Familienkino ein, und schuf einen bis heute ungebrochenen Popkultur-Mythos der romantischen Rebellion zweier Liebender im Verbrechermilieu, der den gescheiterten Versuch einer Gegenkultur der „friedlichen Anarchie“ bezeugt.
Im Vorspann werden – begleitet vom Geklacker des Kamera-Auslösers – vergilbte Fotos von Armut und Elend aus der Zeit der Großen Depression, sowie Texttafeln mit den Biografien der realen Banditen, die als Vorbild für den Film dienten, gezeigt; Bonnie Parker und Clyde Barrow, die Banken ausraubten und damit zu Volkshelden wurden – aufgrund ihres Mutes und ihrer verwegenen Aura der Kriminalität; und weil sie dem kollektiven Hass auf die unfäh
igen Staatsdiener Rechnung trugen.
Die Szene wechselt zu einem Close-up der sinnlich roten Lippen der Film-Bonnie (Faye Dunaway). Nackt läuft die offenbar frustrierte und unbefriedigte Serviererin durch ihr Zimmer. Dann sieht sie vom Fenster aus einen Mann, Clyde (Warren Beatty), der just dabei ist, das Auto ihrer Mutter zu stehlen. Nicht, dass Bonnie interveniert und den potentiellen Dieb zur Rede stellt; sie verwickelt ihn in eine Smalltalk-Situation und ist alsbald beeinduckt von der Courage des soeben aus dem Gefängnis ausgebrochenen Clyde. Sie überredet ihn zu einem Überfall auf ein Lebensmittelgeschäft, anschließend wollen die Beiden eine Bank ausrauben. Diese ist jedoch (bittere, zeitlich bedingte Ironie des Schicksals) selbst pleite, was Clyde erst glaubt, als er den bröckelnden Putz an den Wänden und die leeren Kassen des heruntergekommenen Geldinstituts sieht. Auf ihrem weiteren Streifzug durch den Südwesten der USA gabeln Bonnie und Clyde noch Clydes Bruder Buck (Gene Hackman), dessen Frau Blanche, eine larmoyante Pastorentochter (Oscar-prämiert: Estelle Parsons) und den Tankwart und Autospezialisten C. W. Moss (Michael J. Pollard) auf (Bonnie: „Du kennst dich also mit Autos aus? Dann kannst du mir sicher auch sagen, was das für ein Wagen ist, den wir fahren?“ C. W.: „Das ist ein Vier-Zylinder Ford Cabrio!“ Bonnie: „Nein! Das ist ein GEKLAUTER Vier-Zylinder Ford Cabrio!“). Als berüchtigte „Barrow-Gang“ zieht die Bande nun quer durch die Staaten und narrt das Gesetz…
Dass die Reaktionen auf „Bonnie und Clyde“ unmittelbar nach der Erstaufführung ablehnend bis empört ausfielen, wirkt in der Rückschau fast schon logisch. Mit einem Elan, der auch heute noch ansteckend wirkt, löste sich der Film aus dem von den großen Hollywood-Studiosystemen, die mittlerweile zum Teil der Bankrott ereilt hatte, vorgegebenen stilistischen und erzählerischen Korsett; den zum Teil holzschnittartigen Charakteren, der an feste „Lehrpläne“ gekoppelten, oktroyierten Schauspielkunst des Theaters, den politisch korrekten Geschichten usw. Mit unabhängigen, privat finanzierten Schauspielerproduktionen hielten originäre Visionen des Filmemachens Einzug in die Filmindustrie. Die Sympathien des Zuschauers lagen auf Seiten der Outlaws, die die Banken im Land plündern, welche das verstaubte Establishment der mehr und mehr liberalisierten Gesellschaft repräsentierten. Warren Beattys Antiheld trat mit Impotenzproblemen auf (die von seiner Partnerin akzeptiert werden), und das, obwohl der gesamte Film von einem sexuellen Subtext durchzogen ist, etwa wenn Bonnie herausfordernd und mit erregter Miene über Clydes Revolver streicht. Die Raubzüge möchte sie am liebsten als einleitendes Vorspiel zu einem erst am Schluss – in einem Moment der desillusionierten Zwanglosigkeit – erreichten Höhepunkt genießen. Die lebendige Kameraführung von Burnett Guffey, die mit raffinierten Zoom-Effekten, Perspektivwechseln (vor allem im Showdown) und Jump Cuts aufwartet, wirkt wie ein dynamischer Befreiungsschlag und legt besonderen Wert auf Authentizität. Nachdem die Barrow-Bande die kurzzeitig eingeladenen Anhalter wieder vor die Autotür gesetzt haben, läuft Bonnie ins Kornfeld, um sich auf den Weg zu ihrer Mutter zu machen. Hier zieht eine dunkle Wolke über das Feld, die den baldigen Untergang der Bande beschwört. Die Wolke erschien in diesem Moment tatsächlich am Himmel und wurde nicht per Computertechnik „eingefügt“. Ausstattungstechnisch ist der Film äußerst geschmackvoll. Das betrifft vor allem die schicken Oldtimer und den Kleiderstil der Barrows. Faye Dunaways Bonnie wurde nicht nur zum Sinnbild der weiblichen Emanzipation, sondern mit ihrer Baskenmütze und dem Seidenschal auch zum modischen Vorbild für eine neue Generation von Frauen.
Gene Hackman wurde durch die Rolle des Buck Barrow, der von seinem Bruder in die Geschehnisse hineingezogen wird, zum Star, ebenso wie Faye Dunaway mit ihrem Bob tragenden Flintenweib. Selten war nonchalante Gewaltbereitschaft, gepaart mit weltfremder Unschuld, so sexy wie bei Bonnie. Michael J. Pollard gab C. W. Moss als tätowierten Mitläufer, der die Gang hintergeht – nicht aus Böswilligkeit, sondern weil es sich so ergibt, nachdem er sich selbst aus der Affäre gezogen hat.
Bonnie und Clyde ging es meiner Meinung nach weder – wie oft kolportiert – um den erbeuteten Reichtum in einer Zeit, in der niemand auf legalem Wege „reich“ werden konnte, noch darum, als Revoluzzer zu gelten. Sie wurden angetrieben von einer naiven Abenteuerlust, der Lust, der Provinz den Rücken zu kehren und sich einer Art Kick hinzugeben. In einer Szene sagt Clyde zu Bonnie, sie solle sich lieber einen anderen, wohlhabenderen Kerl suchen, mit ihm käme sie nie zur Ruhe. Ihre lakonische Antwort: „Versprochen?“ Folgerichtig beginnt ihr Streifzug mit „Einstellungstests“ wie dem Schießen auf Flaschen mit der Smith & Wesson und „Mutproben“, die so lausbubenhaft angegangen werden, als ginge es um das nächtliche Stehlen von Kirschen mit der Leiter vom Baum der Nachbarn, und nicht um das Ausrauben von Banken und (später) das Ermorden von Menschen, die sich als „Spaßverderber“ jener Abenteuerlust erweisen. Banjo-Klänge treiben die beiden nach vorn im vielleicht ersten Road-Movie der Filmgeschichte. Kein Natural Born Killers, „Thelma & Louise“ oder „Badlands“ ohne den Einfluss von „Bonnie und Clyde“. Im Verlauf der Handlung wächst eine gesunde Portion Mitteilungsbedürfnis in den Beiden. Um dies zu stillen, schießen sie Fotos mit einem mürrischen Texas Ranger, den sie mitten in der Walachei gestellt haben, als er nach ihnen suchte – diese Fotos sollen an die Behörden verschickt werden. Und um die Erinnerung an ihre Personen sozusagen posthum zu prägen und an ihrer Legendenbildung mitzuwirken, verfasst Bonnie ein Gedicht: „The Ballad of Bonnie and Clyde“. Bonnie und Clyde scheinen irgendwie auch die Kinder eines „Live Hard. Die Young“ zu sein, die filmischen Geschwister all der Morrisons, Joplins und Hendrix`, deren Wunsch nach Freiheit und Abenteuer ebenso (wenn auch auf eine andere Art und Weise) tödlich endete.
So scheint Penns Film nur auf den ersten Blick das verbrecherische Treiben der Gang zu heroisieren. In der Darstellung der Gewalt ist er hässlich, barbarisch und – für die späten 60er-Jahre typisch – mit zynischem Nihilismus gespickt. Am Schluss werden Bonnie und Clyde von Kugeln durchsiebt, in ekstatischem Zucken und in Zeitlupe! Das in alltägliche Floskeln eingegangene Liebespaar geht infolge eines Verrats Hand in Hand in den Tod. Kritiker Patrick Goldstein nannte „Bonnie und Clyde“ einst treffend den „ersten modernen amerikanischen Film“. New Hollywood brachte bald Filme wie „Die Reifeprüfung“ (1967), „Easy Rider“ und „The Wild Bunch“ (beide 1969) hervor, talentierte Regisseure mit markantem Schriftzug wie Francis Ford Coppola (Der Pate, „Apocalypse Now“), Martin Scorsese („Hexenkessel“, Taxi Driver), William Friedkin (Der Exorzist, „French Connection“) und auch Penn selbst („Alice`s Restaurant“, „Little Big Man“) prägten das radikale, kritisch reflektierende Erzählkino der 70er-Jahre, während Vietnam und Watergate Einzug in die amerikanische Wirklichkeit hielten.