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    Sieben Mulden und eine Leiche
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Sieben Mulden und eine Leiche
    Von Björn Becher

    Als er gerade in den Vorbereitungen zu seinem 40. Geburtstag steckt, erreicht den Filmemacher Thomas Haemmerli die Nachricht, dass seine Mutter gestorben ist. Schon seit rund zwei Jahrzehnten hatte er nur noch den nötigsten Kontakt zu seiner Familie, seine Mutter sah er kaum noch, sondern überwies ihr nach dem Tod seines Vaters, ihres Ex-Mannes, und dem damit verbundenen Wegfall der Alimente lediglich monatlich einen Teil seines Gehalts. Als er nun mit seinem Bruder Erik die Wohnung der Mutter betritt, bietet sich ihm ein Bild des Schreckens. Nicht nur, dass der Leichengeruch ihnen den Atem nimmt, auch das Auge wird aufs Übelste gequält. Neben den von Fäulnis zersetzten, am Boden verkrusteten Absonderungen, wo die Leiche einige Zeit gelegen hat, ist die Wohnung ein einziger Müllberg. Auch zum Selbstschutz greift Thomas Haemmerli zur Kamera, deren Blick Distanz schafft und das Ganze erträglicher macht. Über Wochen räumen sein Bruder und er von morgens bis abends die Wohnung aus, die alles zu beherbergen scheint, was ihrer Mutter jemals in die Finger kam. Zwischen Tausenden von Zeitungsschnipseln stoßen die Brüder auf immer mehr Briefe, Filme und Jugenderinnerungen, die ihnen während des mühseligen Aufräumens völlig neue Seiten ihrer Mutter und ihrer Familie offenbaren. Das nach dem Motto „Jeder Gegenstand, der wegkommt, ist ein guter Gegenstand“ voranschreitende Aufräumen wird auch zur Erkundung der eigenen Familiengeschichte. Dabei entsteht ein Dokumentarfilm, der schonungslos, ironisch und auch böse, aber in brillanter Weise einen Blick hinter die Kulissen der Gesellschaft und auf das so genannte Messie-Syndrom liefert. „Sieben Mulden und eine Leiche ist“ ein kleines Doku-Meisterwerk.

    Das Messie-Syndrom ist in den vergangenen Jahren verstärkt ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen. Es geht um eine Sammelwut, die solche Ausmaße annimmt, dass der Betroffene ihr schnell nicht mehr Herr werden kann. Aufgrund des irgendwann erschöpften Stauraums, beziehungsweise der gar nicht mehr vorhandenen Möglichkeit alles, was da gesammelt wird, auch zu sortieren, vermüllt die Wohnung zusehends, was schließlich zur Einschränkung von sozialen Kontakten führt, da man in einer solchen Wohnung niemanden mehr empfangen kann. Wer vielleicht irrtümlich glaubte, dass dies eher ein Problem unterer Schichten sei, wird durch „Sieben Mulden und eine Leiche“ genauso widerlegt, wie jeder der meint, dass man das einem Menschen ansehen müsse. Die Mutter der Hammerli-Brüder kommt aus gutbürgerlich-vermögendem Hause, ist sogar adliger Abstammung und verkehrte lange Zeit in den besten Gesellschaften. Sie war für ihr Alter gut aussehend, wozu auch eine späte Schönheitsoperation beitrug, immer adäquat gekleidet, bis ins hohe Alter extrem reisefreudig und außerordentlich gebildet, dazu kulturell sehr stark interessiert und im Tierschutz engagiert. Nichtsdestotrotz stapeln sich in ihrer Wohnung in jeder Ecke Zeitschriften, Bücher, Kleidung, Kinderspielsachen, auch mal ein paar über ein Jahrzehnt alte Konserven und was man sich nur vorstellen kann. Wie weit dieser Sammelwahn geht, lässt sich an einem Gegenstand besonders fest machen: Eine Keule, mit der Erik als kleiner Junge immer im Frankreichurlaub spielte, die er aber nie mit nach Hause nehmen durfte, findet sich plötzlich inmitten des Chaos wieder.

    Mit den ersten Bildern des Films, die zeigen, wie ein nach schwieriger Suche gefundener Spezialist es auf sich nimmt, die verkrusteten Reste aus getrocknetem Leichenwasser, Fäulnis und Kot vom Boden zu kratzen, schlägt Thomas Haemmerli dem Zuschauer erst einmal gehörig auf den Magen und macht es schwer, sein Auge weiter auf das Geschehen zu richten. Doch auch wenn man nach diesem Einstieg gerne abbrechen würde, erweist er sich als richtig. Es entsteht ein Eindruck, was für eine Folter dieser Anblick erst für die Brüder sein musste und es macht verständlich, warum Haemmerli seinen Schutz in einer durchaus respektlosen, teilweise auch wütenden, insgesamt aber mit beißender Ironie und Schärfe aufwartenden Dokumentation sucht. Diese überzeugt gleich auf zwei Wegen. Sie zeigt nicht nur die Hinterlassenschaften eines „Messies“, sondern sie demaskiert auch die gutbürgerliche Fassade.

    Auch zu ihrem eigenen Entsetzen müssen die Brüder Haemmerli erkennen, mit welcher Schärfe ihre Eltern einst den Scheidungskrieg geführt haben. Briefe und Anwaltsschriftsätze zeugen davon, wie man sich über ein Jahrzehnt in zahlreichen Prozessen in der Schweiz und in Frankreich bis aufs Äußerste gestritten hat und intimste Details aus dem Privatleben zum Gegenstand von Gerichtsverfahren machte. Dabei stand am Anfang eine Hochzeit, die nicht nur dadurch für Aufsehen sorgte, dass eine Adlige einen reichen Anwalt heiratete, sondern weil sich auch ein groß gewachsener dunkelhäutiger Gast namens Kofi inmitten der feinen Gesellschaft bewegte. Der Mann, der von der Großmutter im Fotoalbum nur als „der Näger“ (schweizerisch) angeschrieben wird, heißt mit Nachnamen Annan und wurde später Generalsekretär der Vereinten Nationen. Für seinen Blick zurück in die Vergangenheit nutzt Haemmerli zahlreiche Filmaufnahmen, die sowohl seine Mutter als auch seine Großmutter als begeisterte Hobbyfilmer mit der Super-8-Kamera gemacht haben und die - natürlich - gehortet wurden.

    Geschickt werden Bilder zwischen die Aufräumarbeiten montiert, wobei auch Haemmerli selbst die bewegte Biographie seiner Familie dabei entdeckt. Im Endeffekt erzählt der Film also zwei Geschichten. Immer wieder gelingt ein gelungener, thematisch sehr gut passender Wechsel zwischen der Historie und den aktuellen Aufräumarbeiten, welche die Brüder bis nach Griechenland führen. Denn dort entdeckt man ein Zweithaus der Mutter, das nicht minder stark mit gesammelten Gegenständen befüllt ist und zudem noch von rund 40 Katzen bevölkert wird, die man auch irgendwie loswerden muss. Ebenfalls interessant: Auch die Großmutter war ein Messie. Erik Haemmerli erzählt, wie er mit seiner Mutter rund ein Jahrzehnt früher die Wohnung von dieser ausräumte und hoch und heilig versprochen bekam, das bei ihr nie erleben zu müssen. Auch im Übrigen gibt es in der Biographie der beiden Frauen, die sich auch aufs heftigste zerstritten, sehr viele Parallelen. Neben der vermüllten Wohnung teilten sie die gleiche Vorliebe für den Tierschutz und für sich über Jahre ziehende, kein schmutziges Detail auslassende Prozesse mit dem Ex-Mann.

    „Darf man das?“, werden sich einige fragen und viele wohl ohne Sichtung des Films mit „Nein!“ beantworten. „Ja, man darf es“, lässt sich diesen aber entgegenhalten. Richtig, Haemmerli missachtet den Grundsatz, wonach man nichts Schlechtes über Tote sagen soll, ja Haemmerli verarbeitet den Tod seiner Mutter und die ihm zugemutete „Hinterlassenschaft“ mit einer Doku-Komödie, was sein gutes Recht ist. Er macht den waghalsigen Schritt, einen Film zu drehen, der obwohl er sich mit dem Tod des nächsten Angehörigen beschäftigt, unterhalten will. Und das gelingt ihm auf famose Weise, gerade weil er so respektlos an sein Thema herangeht, was sein einziger Weg ist, dieses auch für sich selbst zu verarbeiten. Oder wie sagt Regisseur Thomas Haemmerli selbst: „Humor, Ironie und Spott sind für mich ganz generell unabdingbar, um die Zumutungen des Lebens meistern zu können. Ich kann nicht ohne, und das prägt meinen Film.“

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