Der Inselpfarrer richtet den Blick gen Himmel und lässt einen Seufzer fahren, denn Gott hat ihm eine schwere Prüfung auferlegt: ein Moment, der aus den existenzialistischen Dramen von Ingmar Bergman wie Wilde Erdbeeren, „Das Schweigen“ oder „Persona“ stammen könnte. In Anna Novion erstem langen Spielfilm „Wir sind alle erwachsen“ ist diese Szene mitsamt der dramatischen Beleuchtung und der leichten Untersicht aber nur ein augenzwinkernder Verweis, nicht zufällig hat die Französin ihre Filmstudien mit einer Arbeit über „Angst, Schuld und Verzweiflung“ im Werk Bergmans abgeschlossen. Novion siedelt ihre bittersüße Komödie in der schwedischen Heimat des berühmten Pessimisten an, um mit leichter Hand von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und des Erwachsenseins zu erzählen.
Der alleinerziehende Bibliothekar Albert (Jean-Pierre Darroussin, Saint Jacques... Pilgern auf Französisch, Dialog mit meinem Gärtner) fährt mit seiner Tochter Jeanne (Anaïs Demoustiers, Reich mir deine Hand, „Wolfszeit“) jedes Jahr zu ihrem Geburtstag in den Urlaub. Diesmal wird sie 17 und es geht auf eine kleine Insel in Schweden, wo Albert den Schatz eines legendären Wikingers aufspüren will. Nach der Ankunft stellt sich heraus, dass es bei der Buchung des Ferienhauses eine Panne gegeben hat. Albert und Jeanne teilen die Bleibe schließlich mit der Vermieterin Annika (Lia Boysen) und deren französischer Freundin Christine (Judith Henry, „Germinal“, „Die Verschwiegene“). Das Mädchen freut sich über die Gesellschaft und ist bald auch von einem blonden Schweden angetan, während den Vater die geballte weibliche Präsenz irritiert…
Regisseurin und Co-Autorin Anna Novion hat nicht nur zu Ingmar Bergman, sondern auch zu Schweden ein besonderes Verhältnis, da ihre Mutter aus dem skandinavischen Land stammt. Die pittoreske Insellandschaft in der Nähe Göteborgs nutzt die Filmemacherin als stimmungsvolle Kulisse, ohne in plakative Bebilderung zu verfallen. Geschickt nutzt sie das Verhältnis der Figuren zur Umgebung für die Charakterzeichnung. Albert hat sich sein Wissen angelesen und nimmt die offensichtlichen Reize und Zeichen zunächst nicht richtig wahr. Er sucht mit seinem Metalldetektor einen Wikingerschatz, letztlich wird er die Insel verfluchen. Aber auch ihm werden die Augen geöffnet. Jean-Pierre Darroussin ist eine gute Wahl für diese Rolle. Er schafft es, das Kauzige des Charakters auf komische Weise zu vermitteln, ohne ihn lächerlich wirken zu lassen. Er gibt ihm Ecken und Kanten, wenn er seiner Tochter mit einer erstaunlichen Borniertheit zunächst jede Selbständigkeit verweigert, ohne es zu merken. Erst allmählich erkennt er, dass aus Jeanne längst eine junge Frau wird.
Wie meist bei Bergman stehen auch bei Novion die Frauenfiguren im Mittelpunkt. Besonders das „Coming of Age“ Jeannes erzählt sie einfühlsam. Da klingt sowohl die lyrische Sommerstimmung von „Die Zeit mit Monika“ an, als auch das selbsternannte Vorbild Jacques Rozier („Adieu Philippine“) und der frühe Truffaut. Mit zärtlichem Blick wird Jeanne beim Radfahren gefilmt wie einst Bernadette Lafont in „Die Unverschämten“. Die Öffnung der jungen Frau für das Fremde, den Blick der Entdeckerin zeigt uns die Regisseurin, indem sie gelegentlich Jeannes Perspektive übernimmt. Pubertäre Hemmungen, jugendliche Melancholie und erwachendes Selbstbewusstsein – dies alles spiegelt sich wiederum im sommersprossigen Gesicht von Anaïs Demoustiers, die für ihre Rolle völlig zu Recht eine César-Nominierung als beste Nachwuchsdarstellerin erhielt.
Das Porträt Jeannes ragt aus Novions Film heraus, aber seine Vervollständigung durch den Blick in die Erwachsenenwelt verleiht ihm erst die rechte Wirkung. Wenn Christine am Telefon zu dem Mann, an den sie ihr Herz gehängt hat, sagt: „Wir sind doch alle erwachsen“, dann widerspricht ihr Mienenspiel dieser behaupteten Vernunft. Auch im fortgeschrittenen Alter wird sich der Widerspruch zwischen Verstand und Gefühl nicht auflösen, das erfährt auch die von der Vergangenheit eingeholte Annika. Gerade in den Ferien und in der Fremde werden vermeintliche Gewissheiten erschüttert. Die sorgfältige Inszenierung bewahrt „Wir sind alle erwachsen“ vor der Banalität von Kalenderweisheiten. Regisseurin Novion verbindet unterschiedliche Einflüsse und Versatzstücke zu einer weitgehend stimmigen Mischung, aus der eine noch etwas zaghafte eigene Stimme spricht. Ihr filmisches Erwachsenwerden verspricht spannend zu werden.