Irgendein Pädagoge hat mal zu Hochzeiten der Reformbewegung in der Erziehungswissenschaft ein Buch mit dem Titel „Es gibt keine schlechten Schüler, sondern nur schlechte Lehrer“ veröffentlicht. Sollte diese provokante Aussage stimmen, wäre der Filmemacher Emir Kusturica (Das Leben ist ein Wunder) ein ausgesprochen schlechter Lehrer. Denn zu denjenigen, die sich als seine Schüler bezeichnen, zählt unter anderem der serbische Regisseur Dusan Milic. Dieser hat der Welt mit „Gucha“ nun ein Musikdrama zum Geschenk gemacht, das niemandem so richtig zur Ehre gereicht: nicht Milic selbst, nicht dem Filmland Serbien, nicht der Brassmusik, um die es wesentlich in dem Film geht, und schon gar nicht dem preisgekrönten Emir Kusturica. Man könnte den filmischen Gau ja Kusturica anlasten und mildernde Umstände für Milic gelten lassen, wenn das reformpädagogische Diktum denn stimmen würde. Zum Glück für alle Lehrer und Erzieher leben wir aber in Zeiten, in denen die Standardwerke der 68er-Reformpädagogik selbst Antiquariatsbesitzern nur noch als Kaffeebecheruntersatz dienen. Heute gilt es als ausgemacht, dass sich auch grandiose Lehrer an schwachen Schülern die Zähne ausbeißen können und dürfen, ohne sich gleich einen Zacken aus der Krone zu brechen. Also muss man fairerweise davon ausgehen, dass auch nach langer Kusturica-Schule einfach gar nichts von dem viel beschworenen Talent des Cannes-Siegers auf Dusan Milic übergesprungen ist.
Es ist nicht einfach, Grandseigneur des südosteuropäischen Kinos zu sein. Fast alle bedeutenden Filme aus dem Balkan-Gebiet werden von Kusturica mitproduziert. Er steht immer an erster Stelle, wenn der Regie-Nachwuchs von dort nach den filmischen Vorbildern, nach seinen Referenzen und Inspirationsquellen befragt wird. Kusturica wird gerne als Ziehvater des bosnischen wie des serbischen Kinos, aber auch eines neuartigen Sinti-und-Roma-Kinos ausgegeben. Wie sollte man ihm da die vielen weniger guten Werke seiner Schüler und Nacheiferer zur Last legen? Man sollte doch vielmehr zur Kenntnis nehmen, welche Möglichkeiten er durch seine vielen gefeierten Filme Jungregisseuren vom Balkan eröffnet hat. Doch bei „Gucha“ liegen die Dinge etwas anders. „Gucha“ ist ein filmischer Krater, der auch Kusturica mit in den Abgrund zieht. Es handelt sich nicht nur um eine zu großen Teilen dilettantisch inszenierte Romeo-und-Julia-Variante, die von lauter Brassmusik zu Tode gedüdelt wird, sondern auch um den Film, auf den alle Kusturica-Kritiker gewartet haben, weil er ihnen perfekt in die Karten spielt. Immerhin hat der „Meister“, der während der Dreharbeiten als Milic’ Berater fungierte, ordentlich mit in das Werk hinein gepfuscht. Besonders in der Art des um Skurrilität bemühten Tons des Films, den dieser aber nur in den seltensten Momenten auch trifft, erkennt man unzweifelhaft den direkten Einfluss der grauen Eminenz im Hintergrund.
Romeo (Marko Markovic) ist ein begnadeter Trompetenspieler in der Blechbläser-Band seiner Roma-Familie, den „Sandokan Tigers“. Die Tiger haben einen Traum: einmal beim größten Brassmusik-Festival der Welt im serbischen Gucha die „Goldene Trompete“ gewinnen. Auf den Sieg ist aber schon seit vielen Jahren die Band ihres Konkurrenten Satchmo (Mladen Miljanic) abonniert. Unglücklicherweise verliebt sich Romeo ausgerechnet in Satchmos Tochter Juliana (Aleksandra Manasijevic). Fatal, nicht nur, weil diese dem befeindeten Familienclan angehört, sondern auch weil Satchmo ein Vater der alten Schule ist, der statt Worten auch mal Hiebe sprechen lässt. Eines Tages, nach einem furiosen Trompetenduell mit Satchmo und anschließender Verfolgungsjagd, kann Romeo Julianas Vater zumindest ein im Spotte daher gesagtes Zugeständnis abringen: Er darf mit Juliana zusammen sein, wenn er Satchmo auf dem Brassmusikfestival in Gucha besiegt...
Ein Musikfilm nur mit Brassmusik? Das gab es schon, zum Beispiel mit dem sehenswerten Sozialdrama „Brassed Off“ (1996) mit Ewan McGregor. Dieser charmante englische Geheimtipp hat gezeigt, dass Brassmusik nicht nur einer folkloristisch gesinnten Minderheit zugänglich gemacht werden kann. Hier wurde klassische Musik gebrummt und posaunt, dass es dem Zuschauer ein Wohlgefallen war. „Gucha“ ist exklusiver. Wer hier kein Faible für serbische Folklore hat, dem wird es schwerlich gelingen, dem Film eine positive Seite abzugewinnen. Es muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es sich bei „Gucha“ nicht um eine Low-Budget-Produktion handelt. Milic hatte genügend Fördermittel zur Verfügung, um einen ordentlichen Kinofilm „Made in Serbia“ auf die Beine zu stellen. Trotzdem wirkt der Film ausgesprochen billig, beinahe amateurhaft. Es kommt häufig zu Schnitzern, wie etwa in der Szene, in der Romeo von Satchmo und seinem Anhang über Wald und Wiesen gejagt wird, und plötzlich einer von Satchmos Männern bemerkt, dass er gestolpert ist, bevor er überhaupt den Halt verliert. So wird unfreiwillig doch noch das erreicht, worum der Film eigentlich die ganze Länge über krampfhaft, aber erfolglos bemüht ist: nämlich skurrile Komik.
Sicher gehört zu jeder Romeo-und-Julia-Story ein andächtig-stimmungsvoller innerer Monolog Romeos. Aber was dieser hier aus dem Off vom Stapel lässt, ist nicht nur grotesk, sondern auch schwerlich mit dem in Einklang zu bringen, was auf der Leinwand vor sich geht. Während sich eine tragikfreie, unbeschwert-leichte Verbotene-Liebe-Geschichte von der Harmlosigkeit einer Hanni-und-Nanni-Episode vor den Augen des Zuschauers abspielt, vernimmt der Zuschauer einen Off-Kommentar voller schwülstig-dunkler Lyrik über Tod, Unversöhnlichkeit, Verzweiflung und Hass.
Milic selbst nennt seinen Musikfilm „serbisches neorealistisches Bollywood“. Das ist harter Tobak. Zum Glück ist diese Anmaßung kaum nachvollziehbar und so weit hergeholt, dass man nicht zu befürchten braucht, dass ihm dies irgendjemand ernsthaft abkauft. So ist man auch als Kritiker der Zumutung enthoben, ausführlich darzulegen, warum „Gucha“ weder neorealistisch noch Bollywood ist. Was „Gucha“ unglücklicherweise in Wirklichkeit ist, ist ein serbischer Film. Und das ist traurig, weil es das noch junge, ambitionierte serbische Kino nicht verdient hat, auf diese Weise zurückgeworfen zu werden. „Gucha“ wird nämlich in Serbien als Vorzeige-Filmproduktion verkauft und wurde auch auf Wettbewerben als großes serbisches Filmgut ausgegeben. Das ist ein großer Schwindel, zu dem maßgeblich der Produzentenname Kusturica beigetragen haben dürfte.
Fazit: Dusan Milic’ Musikfilm ist trotz talentierter Bläsern selbst für Brassmusikliebhaber unzumutbar. „Gucha“ ist rückständiges Kino, das leider demjenigen am meisten schadet, der es wenigsten verdient hat: nämlich dem serbischen Film. Es bleibt zu hoffen, dass sich der südosteuropäische Regie-Nachwuchs langsam von Emir Kusturica emanzipiert und eigene Wege einschlägt. Andernfalls werden wahrscheinlich noch viele Schülerarbeiten ähnlich radikal wie „Gucha“ durchfallen.