Bryan Singer und Quentin Tarantino – ein auf den ersten Blick völlig abstruser Vergleich. Der eine ruhig und in sich gekehrt, der andere schrill und extrovertiert, und doch sind in den Biographien deutliche parallelen zu erkennen. Die Debütwerke der Regie-Genies gingen in beiden Fällen völlig unter: Tarantinos „Reservoir Dogs" kam wenigstens im Nachhinein annähernd der Ruhm zuteil, der ihm gebührt, doch Singers „Lion Den’s“ ist auch heutzutage allenfalls Insidern ein Begriff. Mit ihren zweiten Versuchen schufen Tarantino mit „Pulp Fiction" und Singer mit „Die üblichen Verdächtigen“ jedoch herausragende Meilensteine der Filmgeschichte – und das in einem Alter, in dem andere noch an den diversen Filmhochschulen Amerikas in den Grundlagen des Handwerks unterrichtet werden. Tarantino war gerade 31, Singer 28.
Nach einer Schießerei kommt es im Hafen von Los Angeles zu einer Explosion. Dutzende Menschen sterben. Die örtlichen Behörden stehen vor einem Rätsel. Astronomische Geldsummen, schwer bewaffnete Gauner – alles deutet auf einen Drogendeal im großen Stil hin, alles, bis auf die Tatsache, dass am Tatort keinerlei Drogen gefunden wurden. Zollinspektor Dave Kujan (Chazz Palminteri) erhofft sich von den Vernehmungen der beiden einzigen Überlebenden des Massakers, ein osteuropäischer Koma-Patient und der halbseitig gelähmte Kleinganove Verbal Kint (Kevin Spacey), Informationen zur Lösung des Rätsels. Stück für Stück erschließt sich Kujan bei der Befragung Kints ein komplexes Puzzle aus Verrat, Erpressung, Korruption und Mord, in dessen Mittelpunkt die Verbrecher Dean Keaton (Gabriel Byrne), Todd Hockney (Kevin Pollack), Michael McManus (Stephen Baldwin), Fred Fenster (Benico del Toro) und Kint selbst stehen. Kujan stößt auf heikle Fragen: Wer ist der Auftraggeber des schleimigen Anwalts Kobayashi (Pete Postlethwaite)? Steckt in dem Unterweltmythos vom alles kontrollierenden Obergangster Keyzer Soze vielleicht doch ein Funken Wahrheit? Kujan läuft auf seiner persönlichen Odyssee, die ihn zur Lösung des Falls führen soll, mehr und mehr die Zeit davon.
Highlight ist hier eindeutig die spektakuläre Schlusswendung. Was Drehbuchautor Christopher McQuarrie, mit dem Singer übrigens schon bei „Lion Den’s“ zusammen arbeitete, hier auf die Zuschauer loslässt, ist so überraschend, dass sich in weiten Teilen des damaligen Kinopublikums schiere Sprachlosigkeit einstellte und sich die Fachpresse förmlich überschlug. Völlig zu Recht erhielt McQuarrie den Oscar für das beste Drehbuch. Die Schlusssequenz, in der Chazz Palminteri klar wird, was gespielt wird, gehört unbestritten zu den besten und intelligentesten Momenten des Kinos, die Hollywood je zustande brachte.
Rein formell hätte „Die üblichen Verdächtigen“ auch aus der Blütezeit des Film Noir stammen können, insbesondere die Ähnlichkeiten in Erzählstil, Thematik und Spannungsaufbau zu Orson Welles Klassiker „Citizen Kane" sind frappierend. In beiden Fällen wird die Geschichte sowohl in der Gegenwart, als auch in der Vergangenheit mit Hilfe von Rückblenden weiter entwickelt. Zwar schickt Welles nur einen Reporter auf die Suche nach einer Story und Singer einen Zollfander auf die Jagd nach einem Verbrecher, doch was im Original „Rosebud“ ist, ist bei Singer „Keyzer Soze“. Ein Wort, beziehungsweise ein Name, um den sich alles dreht und dessen Identität erst in den letzten Minuten aufgeklärt wird. Ob diese Analogien nun beabsichtigt waren oder nicht, sei dahin gestellt, doch schon allein die Tatsache, dass Singers Werk in eine solche Beziehung zu „Citizen Kane" gestellt werden kann und dabei in keiner Weise negativ abfällt, ist ein Zeichen großer Klasse.
Dem überragenden Drehbuch war es wohl auch zu verdanken, dass es Singer, ein bis dato vollkommen unbekannter Independent-Regisseur, gelang, einen Cast um sich zu scharen, der seines gleichen sucht. Jede noch so kleine Rolle ist perfekt besetzt. Im Vordergrund steht aus handlungstechnischen Gründen logischerweise das Duell Palminteri gegen Spacey, welcher für die dargebotene Leistung mit seinem ersten Academy Award (beste männliche Nebenrolle) ausgezeichnet wurde. Doch nicht nur diese zwei bieten Leistungen auf höchstem Niveau. Charakterkopf Byrne läuft zur Höchstform auf. Stephen Baldwin sollte sich glücklich schätzen, dass er in einem solchen Film mitspielen durfte, denn alles was er nach der überraschenderweise starken Vorstellung in „Die üblichen Verdächtigen“ in filmischer Hinsicht ablieferte, ist eigentlich kaum der Rede wert. Kevin Pollak, Pete Postlethwaite, Dan Hedaya – hier greift ein Rädchen ins andere. Einzig die deutsche Synchronstimme von Benico del Toro, der einen wunderbar überdrehten Lateinamerikaner spielt, fällt etwas ab und trübt das ansonsten sehr stimmige Gesamtbild.
Nach seinem Erfolg mit „Die üblichen Verdächtigen“ machte sich Singer rar. Verständlich, denn wer in so jungen Jahren einen Film zusammenschustert, der regelmäßig in den Hitlisten der besten Filme aller Zeiten landet, hat es nicht nötig, sich für Durchschnittsware herzugeben. Bei ihm gilt die Faustregel: ein Film alle drei Jahre. Nach „Die üblichen Verdächtigen“ folgten noch der leider oft unterschätzte „Musterschüler“, der in den USA floppte und in Deutschland direkt in den Videotheken landete sowie die beiden ersten Teile, der von ihm als Blockbuster-Trilogie konzipierten „X-Men"-Verfilmung. Der Erfolg gibt ihm Recht, auch wenn keines seiner nachfolgenden Werke an sein Meisterstück heranreicht, was zweifelsohne auch zukünftig schwer werden wird. „Die üblichen Verdächtigen“ ist ein Referenzfilm des Genres, der immer wieder in anderen, im Vergleich eher zweitklassigen Produktionen, zitiert wird. Jeder, der damit leben kann, dass ein Film in erster Linie von der schauspielerischen Leistung und nicht von aufwendigen Spezialeffekten lebt, sollte „Die üblichen Verdächtigen“ zumindest einmal gesehen haben. Wer dies noch nicht getan hat, sollte die schleunigst nachholen und die daraus entstehende Kulturlücke schließen.