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    Spuren im Eis
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Spuren im Eis
    Von Christian Horn

    „Spuren im Eis“ wurde vergangenes Jahr mit dem „Copenhagen Dox Amnesty Award“ ausgezeichnet, ein weiteres Beispiel dafür, dass Festivalpreise nicht immer an gelungene Filme vergeben werden. Der unter der Regie von Staffan Julén entstandene Dokumentarfilm erzählt eine Geschichte aus zwei Perspektiven, nämlich der des Polarforschers Robert E. Peary, dem die Entdeckung des Nordpols im Jahre 1897 zugeschrieben wird, und der des Inuit Minik. Peary hatte zur Finanzierung seiner Expedition sechs Ureinwohner Grönlands nach New York mitgebracht, unter denen sich auch der damals sechsjährige Junge befindet. Julén widmet sich seinen beiden Protagonisten in gleichem Maße, wodurch er ein dialektisches Spannungsverhältnis schafft und in beiden Erzählsträngen die gleichen Fragen – vor allem nach dem Unterschied der Kulturen und der Suche nach Heimat – in zwei verschiedenen Kontexten stellen kann. Dieser Aufbau vermag freilich zu faszinieren, scheitert aber an der filmgestalterisch allzu konservativen und dokumentarisch zweifelhaften Umsetzung.

    Als der US-Amerikaner Peary den Nordpol entdeckt – eine Zuschreibung übrigens, die schon zu Pearys Lebzeiten in Frage gestellt wurde – fand er dort den bis dahin größten bekannten Meteoriten vor. Seine kostspieligen, zwei Jahre währenden Bemühungen, den Stein in ein naturwissenschaftliches Museum zu schaffen, bringen arge Finanzierungsprobleme mit sich. Aus diesem Grund und natürlich im Sinne der Wissenschaft schaffte Peary sechs der Ureinwohner Grönlands, damals Eskimos genannt, nach New York. Die Inuit erleben ihre ersten Tage in New York als einen gewaltigen Kulturschock, werden Schaulustigen für ein Eintrittsgeld von 25 Cent vorgeführt und sterben sehr bald an Krankheiten, gegen die sie nicht immun sind; nur der Jüngste, Minik, überlebt. Von Peary, der wieder am Nordpol forscht, allein gelassen, erlebt der Junge eine einsame, mit rassistischen Vorurteilen gespickte Jugend. Als Heranwachsender beginnt er seine Herkunft immer kritischer zu hinterfragen, wodurch er sich mehr und mehr als Ausgeschlossener der Gesellschaft sieht. Ein Aufenthalt in Grönland bricht seine kulturelle Identität weiter: Auch dort fühlt er sich fremd. Nach einer Phase des Herumirrens in Amerika stirbt er im Alter von 31 Jahren an der spanischen Grippe.

    Die Erlebnisse Pearys kommuniziert „Spuren im Eis“ vorwiegend in der Tradition von Fernseh-Dokumentationen: ein referierender Off-Kommentar, Foto- und Archivaufnahmen der Expedition und eigens für den Film gedrehte Sequenzen am Nordpol. An sich ist Peary eine interessante, zuletzt gebrochene Persönlichkeit; seine abenteuerlichen Expeditionen oder das Verhältnis zu einer grönländischen, verheirateten Frau haben durchaus das Potential zu einer guten Erzählung, können sich aber im Rahmen ihrer Umsetzung nicht entfalten. Diese ist zu verstaubt, zu wenig elastisch und mit zu wenigen Leerstellen versehen, die Zeit für eigene Reflexionen des Zuschauers bieten. Als formales Verbindungsstück zwischen Pearys und Miniks Lebensgeschichten fungieren zwei greise Ureinwohnerinnen Grönlands, Zeitzeuginnen sozusagen, die sich peinlich (und entlarvend) genau an alle Details erinnern können und sowohl den Polarforscher als auch den Jungen in hohem Maße mystifizieren.

    Seine größten Schwächen offenbart Staffan Juléns Dokumentarfilm in der narrativen Struktur der Geschichte Miniks, die mit der ersten verwoben ist und von Robert E. Peary II., dem Urenkel Pearys, recherchiert und erzählt wird. Der Urenkel ist der eigentliche Erzähler des Films und in seiner Funktion völlig überflüssig. Juléns Versuch, die kulturelle Zerrissenheit Miniks auf Peary II. zu projizieren, misslingt aufgrund der nicht vergleichbaren Lebenssituation und der reichlich gefühlsduseligen Aufladung. Als die Dramaturgie des Films den Erzähler nach Grönland schickt, um sein Gefühl mit dem Miniks zu parallelisieren, wird diese Art der Interpretation vollends ad absurdum geführt; „Ihr baut Häuser für Hunde und Katzen, aber niemand kümmert sich um einen verlorenen Eskimojungen“, hatte Minik einmal klagend und nachvollziehbar ausgerufen, wohingegen das Schicksal Pearys II. deutlich abgemildert ist und als Vergleich schlicht nicht herhalten kann. Auch die zweite Perspektive des Films kommt nicht ohne die Versatzstücke einer TV-Dokumentation aus, wird aber hauptsächlich aus der Sicht des Urenkels berichtet, der akribisch und ausdauernd nach Spuren aus dem Leben Miniks sucht, immer von der Kamera begleitet. Allzu oft manövriert der Film sich dabei in Sackgassen, etwa als Peary II. über eine Dauer von zehn Minuten nach Schädel und Gehirn des aus seiner Heimat gerissenen Inuit sucht. Zu Pearys Zeit wurden Gehirne fremder Völker und solche von (geistes-)kranken Personen aus anthropologischem Interesse heraus gesammelt und konserviert; ebenso die Knochen fremdländischer „Rassen“. Zu welchem Zweck Peary II. so hartnäckig nach diesen Überresten sucht, im Übrigen eine erfolglose Suche, bleibt dem Betrachter ein völliges Rätsel. Womöglich wäre „Spuren im Eis“ um eine Szene „reicher“, in der Peary II. andächtig vor dem Gehirn stehend gezeigt wird. Dass dieser Exkurs – so wie einige andere auch – von keinem dokumentarischen Interesse ist, steht außer Frage.

    „Spuren im Eis“ nimmt sich viel vor, setzt aber nur weniges davon zufrieden stellend um. Die gelungene Struktur, nämlich das Verschweben zweier Biographien (wobei die zweite durch einen unnötigen, allenfalls zur Verlängerung der Problematik in die Gegenwart nützlichen Erzähler gebrochen ist) wird durch die langweilige, uneinheitliche und jeglicher Innovation entbehrenden Gestaltung erstickt. Staffan Juléns Regieleistung, sein künstlerischer Einfluss und letztlich seine Position treten völlig in den Hintergrund, anstatt die ästhetische und narrative Zersplitterung des Films zu verhindern. Zum Schluss steht Peary II. vor Miniks Grab, singt ein Lied der Inuit und hält eine beinahe kitschige „Schlusspredigt“, einen Appell für die Akzeptanz der kulturellen Unterschiede in der Welt, abgerundet von einem bedeutungsschwangeren Blick aus dem Bild, der wohl in eine Zukunft verweisen soll, in der auf dieser, unserer Erde alle Kulturen in Frieden und Eintracht miteinander leben. Dokumentarisch gehaltvoll ist das nicht, aber für den „Copenhagen Dox Amnesty Award“ hat es ja gereicht.

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