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    Ein Lied für Argyris
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    Anonymer User
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    Veröffentlicht am 18. März 2010
    Argyris Sfountouris war nicht ganz 4 Jahre alt, als er im Juni 1944 erleben musste, wie 218 Bewohner seines griechischen Heimatdorfes Distomo von SS-Einheiten bestialisch ermordet wurden als Vergeltung für ein Partisanenangriff, darunter seine Eltern sowie 30 weitere Familienangehörige. Ein Trauma, das den 66jährigen bis heute nicht los lässt. Der Film zeichnet im wesentlichen ein individuelles Portrait von Argyris im Kontext seiner jeweiligen Umgebung. Heute lebt er als Naturwissenschaftler in der Schweiz, dort er schon seit seiner Kindheit ein neues zu Hause gefunden hat, wiewohl er – überall und nirgendwo zu Hause – ein Getriebener blieb, die Erlebnisse von Distomo nicht aufhören wollen in ihm zu brennen, wie er selbst sagt. Vielleicht dass sie nur im Kollektiv bewältigt werden können? Hört sich plausibel an. Doch wie Allgemeinheit herstellen, die der einzelnen Existenz gerecht wird? Es sind gerade die vermeintlich einfachen und naheliegenden Dinge, die schwer zu realisieren sind. Vor allem Menschen, die schlimmste Dinge erlebt haben, wissen das zu ermessen. Dazu ein paar anregende Bemerkungen des Filmemachers aus dem mir vorliegenden Pressematerial:

    “Es ist schwierig und ungewohnt, sich den Opfern zuzuwenden. Als ob sich tief in uns drin ein seltsames Grundwissen eingenistet hat, dass es besser ist sie zu meiden (...) Unser Interesse gilt normalerweise den Tätern. Wie kam es dazu, dass sie zu solch einer Tat fähig waren? (...) Im stillen Hintergrund lauert die Frage, ob wir selber dazu auch fähig wären (...) Die Bereitschaft zur Selbstkritik könnte bedeuten, sich aus dieser Gemeinschaft herauszukatapultieren, ausgestoßen zu werden.”

    Der Regisseur sieht die Opferproblematik, so lese ich ihn, in einem gesellschaftlichen Kontext. Ich möchte es schärfer ausdrücken: Menschen, die ihr Opferdasein in sich nicht verleugnen können, brauchen und wollen einen gesellschaftlichen Kontext: eine Funktion, die über ihr Opferdasein hinausweist. Andernfalls wären sie in ihrem Sosein eingemauert, – weit weg: bequem vor allem für solche Beteiligten, die sich nicht als Opfer der Gesellschaft sehen müssen oder nicht sehen wollen, vielleicht weil sie – uneingestanden – wollen, dass “alles” so ist und bleibt wie es ist, noch ohne zu wissen, was.

    Nicht nur Opfer tun sich schwer, sich in einem problematischen, vielleicht veränderungswürdigen gesellschaftlichen Kontext involviert zu sehen, in einer Funktion, die über eine Placebofunktion hinausginge. Die sich weniger betroffen fühlende Umgebung macht es dem allzu offensichtlichen Opfer nicht leicht, sich aus der Opferrolle heraus in die Gesellschaft hinein zu bewegen. Wiewohl das Opferdasein auch aus sich selbst heraus problematisch ist, noch bevor der gesellschaftliche Kontext als problematisch in den Blick gerät, so dass hier möglicherweise inkommensurable Ebenen, die subjektive und die gesellschaftliche Ebene, leicht miteinander vermischt werden. Oder anders ausgedrückt: oft ist zu wenig klar, auf welcher Ebene Verständigung gerade stattfindet, wenn sie denn versucht wird.

    Die Schwierigkeiten fangen aber – ganz profan – viel früher an. Weil wir, die ach so Normalen, nicht betroffen sind? Vielleicht dass man etwas verleugnet, was die Opfer von Distomo in sich nicht verleugnen können, hier Erfahrungswelten nicht kommensurabel aufeinander treffen? Opfer will keiner sein, sie werden gemieden, wie der Regisseur oben andeutet. Für weniger betroffene ist es per definitionem problematisch, sich in einer Opferrolle wahrzunehmen. Das macht Kommunikation mit einer Umgebung schwierig, die sich selbst als Opfer nicht sieht oder nicht sehen will, aus welchen Gründen auch immer. Dieser soziale Sachverhalt wird unmittelbar spürbar, leider zu oft nur spürbar, wenn die Gesellschaft sich zu Opfern “verhalten muss”, weil sie da sind und die ach so Normalen mit ihrer Existenz bedrängen, Kommunikation aufnötigen, die keiner so recht will, die aber mit guten Gründen nicht verweigert werden kann. Die Gesellschaft zieht sich aus der Affäre, indem sie Kommunikation mit dem Opfer verprofessionalisiert, um das Opfer als therapiebedürftig wie einen Kranken zu entsorgen. Oder Kommunikation findet, im Alltag, irgendwie statt im Bemühen, so lese ich den Regisseur, diese uneingestanden zu verweigern noch während man unentwegt kommuniziert, sich buchstäblich um Kopf und Kragen redet. Hier haben Politiker, Vertreter der veröffentlichten Meinung, es besonders schwer. Sie sind durch ihren Beruf verpflichtet, sich zu Opfern in ein “normales” Verhältnis zu setzen, das ihnen, man sieht’s ihnen an, durchaus nicht behagen mag. In Sonntagsreden kommt dieses Unbehagen gewohnheitsmäßig zum Ausdruck. Politiker reden, noch während sie wissen, dass diejenigen, für die sie reden, sich dabei nicht gut fühlen. So geschehen auf einer Gedenkfeier für die Opfer von Distomo am 09. Juni 2004, auf der Botschafter Dr. Albert Spiegel eine Rede hielt. Er sagte u.a. das folgende:

    “Wir gedenken in diesen Tagen besonders der Opfer und ihrer Nachkommen, denen im Namen Deutschlands unermessliches Leid zugefügt wurde, wie leider auch an so vielen anderen Orten in Griechenland und Europa (...) ich wünsche mir, dass Sie von meinen Worten heute Abend vor allem dieses eine in Erinnerung behalten werden: Unsere Bitte um Verzeihung und den Ausdruck unserer Entschuldigung.”

    Als könne man hier was verzeihen. Reue und Verzeihung ist denn auch nicht Gegenstand der Rede. Es geht vielmehr um ihre Funktion, Rollen zu verteilen. Zum einen die “normale” Umgebung, die um Verzeihung bittet, zum anderen die Opfer, die Verzeihung gewähren. Schön und gut, aber Opfer wollen es instinktiv damit nicht bewenden lassen. Sie wollen sich nicht abspeisen lassen, so viel steht fest. Ja, Argyris und seine Mitstreiter reagierten offen verärgert, aggressiv nicht nur auf diese Rede, ohne aber hinreichend deutlich zu machen, was sie denn eigentlich wollen. Ich würde es als These so formulieren: hier wird von allen Beteiligten gesellschaftlicher Kontext nur suggeriert, nicht wirklich hergestellt. Sich in einer Opferrolle eingemauert zu fühlen, ist m.E. ein Indiz dafür, dass gesellschaftlicher Kontext: ein verallgemeinerbares Interesse, nicht wirklich hergestellt, dass diese Ebene der Verständigung nicht wirklich erreicht worden ist. Ein Scheitern, an dem auch das Opfer seinen Anteil hat, weil zu wenig in der Lage, mehr als nur auf der Ebene des Gefühls, des Subjektiven zu reagieren. Das wird im Film nicht zureichend thematisiert. Das muss nicht gegen ihn sprechen, ist gesellschaftlicher Kontext doch nicht etwas, was ein für alle mal hergestellt ist, sondern etwas, was sich entwickeln muss, durch Filme wie diesen, aus dem Engagement vor allem der Opfer selbst, die sich zurecht keinen Kontext aufnötigen lassen wollen, auch nicht durch einen Film. Überdies bemisst sich die Qualität eines Films nicht an Fragen, die er zureichend nicht zu beantworten vermag. Wichtig ist, dass Fragen sich entwickeln können, nicht zuletzt durch den Betrachter selbst. Diesbezüglich steht “Ein Lied für Argyris” in einem wohltuenden Kontrast z.B. zu Guido Knopps NS-Dokumentationen, in denen, wenn überhaupt, unproblematisch allenfalls Fragen auftauchen, die sich – wie öde! – von selbst beantworten.

    Guido Knopps Filme über die NS-Zeit machen es sich leicht, übrigens ähnlich wie die Bücher von Joachim Fest: Sie versubjektivieren Allgemeinheit frei nach Aristoteles. Der sah den Sinn von Geschichtsschreibung ganz unproblematisch darin, wissen zu wollen “wie es damals war”. Tatsachenfetischisierend. Den Akzent auf das geschichtliche Faktum legend, begnügen sie sich damit, den Betrachter zu fesseln, indem sie das Faktum dramaturgisch einkleiden. Sie reduzieren den Betrachter auf die Fähigkeit zu fühlen. Darin der Grieche Homer ein Meister seines Faches war. Er wusste, wir alle haben Gefühle, die uns binden an den gesellschaftlichen Kontext, aus sich heraus, ohne diesen in ein problematisches Licht zu stellen. Gefühle fesseln im wahrsten Sinne des Wortes. Gefühle kommen allen Menschen zu, gleichermaßen. Derart sind sie in der Lage, verallgemeinerungsfähige Interessen zu suggerieren. Sie konstituieren unmittelbar einen gemeinsamen Erlebnisraum, ohne den Gegenstand gemeinsamen Handelns zu benennen, der sich allenfalls in nichtssagende Verlautbarungen ergießt: wehret den Anfängen; Vorsicht vor Demagogen, wenn sie mit Süßigkeiten locken. Ist das nicht wunderbar. Damit haben wir alle eine gemeinsame Aufgabe. Tatsächlich machen Guidos Filme das Grauen – lediglich und nur – zu einem Erlebnis, Erkenntnisse vortäuschend, den Zuschauer lediglich fühlen, als wäre er selbst dabei, quasi selber in Gefahr, von Hitler verführt zu werden, wie damals die Menschen auch. Er gefällt sich darin, das monströs Böse in poetisch-stilisierender Atmosphäre begriffslos zur Darstellung zu bringen – mit dem Ergebnis, dass Verallgemeinerungsfähiges, dies natürlich sein Anspruch als Wissenschaftler, de facto versubjektiviert wird, ins Subjekt projizierend, anstatt sich auf das risikoträchtige Wagnis einzulassen, den umgekehrten Weg zu gehen – man könnte sich ja blamieren – Subjektives zu verobjektivieren, das heißt, das Subjekt einzubeziehen, ihm wirkliche, auch und gerade unbequeme Teilhabe zuzubilligen, es im Schlechten wie im Gutem involviert zu sehen, zu sehen wie es teilhat – am Völkermord durch “Nicht sehen wollen”, kurzum: Subjektives begreiflich zu machen in einem sozialen Kontext, der über den gefühlsmonströsen Blick hinausginge. Andernfalls blieben Filmemacher wie Betrachter de facto außen vor, streng genommen – ohne Involviertsein, ohne Funktion – nicht einmal die subjektivistische Perspektive wirklich gewahrt wäre. Die gibt es als solche gar nicht. Welche sollte es auch sein? Das Subjekt ist im Moment seiner Geburt involviert, in was und wodurch auch immer. Doch darum darf es nicht gehen. Es soll nicht mehr sein, als einfach nur “da”, um sich damit zu begnügen, Guidos Filme wie Horrorfilme zu konsumieren. Es darf sich reflexartig eine Gänsehaut verschaffen. Es muss aber keine Angst vor Hitler haben, wohl wissend, es ist nur ein Film. Hitler und seine Schergen sind Horrorfiguren, mehr nicht. Nicht das Erlebnis ist schlimm. Erbärmlich ist nur, dass man den Zuschauer auf seine Fähigkeit zu fühlen, resp. auf Erlebnisfähigkeit reduziert, so in der Art: Ich fühle, also bin ich. Mehr darf nicht sein. (vergl. “Ich fühle, also bin ich”, www.film-und-politik.de /Kommunikation)

    Zurück zu Argyris. Auch er will mehr sein, als einfach nur “da”. Dennoch verfehlt er ein zureichend verallgemeinerbares Interesse, dazu angetan, aus der Opferrolle herauszuführen. Die Frage ist, wie das geschieht. Was sind seine Argumente, die er gegen Spiegel vorbringt? Zielen sie ihrerseits auf einen gesellschaftlichen Kontext oder suggerieren sie ihn nicht auch nur? Argyris setzt die Bitte um Verzeihung, daran geknüpfte Reue, also die Herstellung verteilter Rollen, ins Unrecht, indem er sagt: er könne sie, die Bitte, nicht ernst nehmen, wenn Spiegel zugleich im Namen der deutschen Regierung gegen Entschädigungsforderungen der Opfer plädiere. Diesen Satz sagt er zwar nicht wörtlich. Der Zusammenhang drängt sich dem Betrachter aber auf, weil der Kampf um Entschädigungsforderungen im Film einen sehr großen Raum einnimmt. Es ist mehr als fraglich, ob die Gewährung von Entschädigungszahlungen einen zureichend verallgemeinerungsfähigen Gegenstand darstellt, der aus der Opferrolle heraus zu wirklicher Teilhabe führen würde. Die aufgeregte Reaktion von Argyris auf die Rede von Spiegel sprechen eine andere Sprache: es ginge ihm nicht um Zahlungen, nicht einmal um Reue. Aber um was dann?

    Schlimmer: Argyris fühlt sich in die Defensive gedrängt, denn die Sache wird einmal mehr kompliziert dadurch, dass Spiegels Argumentation auf Verallgemeinerungsfähiges verweist, das, nicht ganz einfach, auf seine Substanzlosigkeit hin erst einmal zu widerlegen ist. Er spricht von dem allgemeinen Interesse “Europa”. Er sagt sinngemäß, wir würden heute in einem Europa leben, das politisch immer mehr zusammen wachse. Wir lebten in einem sozialen Kontext, in dem die soziale und ökonomische Existenz aller Menschen so eng miteinander verknüpft sei, dass Entschädigungszahlungen, die sich überdies auf eine ganz andere Zeit bezögen, nicht mehr vermittelbar seien. Würde man in einem Einzelfall wie Distomo Entschädigungsleistungen bewilligen, sähe Europa sich, so will Spiegel wahrscheinlich bedeuten, mit unzähligen Forderungen vor allem – aber nicht nur – gegenüber Deutschland konfrontiert, was noch mehr Konflikte heraufbeschwören würden. Die jetzigen seien schon kaum zu bewältigen.

    Eine Argumentationskette, die sich, laut Film, nicht nur nicht um die aktuelle Rechtslage schert, auf die man sonst immer gern verweist, wenn’s passt, sondern die von Opfern als kalt empfunden werden muss, die aber deswegen nicht unrealistisch sein muss, unabhängig von der geltenden Rechtslage. Spiegels Argumentation zielt pragmatisch auf den gesunden Menschenverstand, nachvollziehbar auf soziale Entwicklungen gerichtet, die im Konflikt stehen können zum geltenden Recht. Wie will man Menschen in Zeiten “knappen Geldes”, die für sich den unsäglichen Satz der “Gnade der späten Geburt” in Anspruch nehmen, vermitteln, dass für sie weniger Geld vorhanden ist, weil es die Grausamkeiten ihrer Väter während der NS-Zeit gegeben hat? Völlig abwegig ist eine solche Argumentation nicht. Man mag von ihr halten, was man will.

    Auch Mikis Theodorakis hält von Spiegel nichts. Er kommt den Opfern nur vermeintlich mit einer tief in unserer Mentalität verankerten Argumentation zu Hilfe, die den gesellschaftliche Kontext zeitgeisthörig ausblendend, indem er empört auf individuelle Schuldzuweisung verweist. Wer schuld hat, muss zahlen. Er sagt: wenn man dem Nachbarn das Haus anzündet, werde man doch auch zur Verantwortung gezogen. Diese Argumentation setzt voraus, dass die überwiegende Mehrheit der heute lebenden Menschen mit den Verbrechen der Nazis etwas zu tun hat. Mikis will den Kindern der Väter Schuld zuweisen. Die Kinder sagen: ich war doch gar nicht dabei und haben natürlich recht. Oder wen will Mikis hier zahlen lassen? Heute lebende Menschen sind für etwas ganz anderes verantwortlich, für dass sie zukünftig vielleicht einmal werden zahlen müssen, dafür, dass sie, wie ihre Väter damals, heute einmal mehr wegsehen. Dafür, dass sie es ablehnen, den Hunger in der Welt mit ihrer Existenz verknüpft zu sehen.

    Das Problem ist weniger, dass Argumente von Schuld und Abgeltung (Unschuld) verwendet werden als vielmehr, dass eine derartige Denkfigur eine personell zurechenbare Schuld voraussetzt, die es geben mag, weil alle Welt davon gewohnheitsmäßig spricht, und man diesbezüglich immer auf Fakten verweisen kann, wiewohl individuelle Schuld sich im Kontext gesellschaftlicher Verantwortung auflöst, unbenommen davon, dass die Gesellschaft gehalten ist, Verbrechen zu verfolgen und zu ahnden – aus einer Not heraus, die ein Licht wirft auf einen Spannungszustand, den es in Massengesellschaften notwendig gibt zwischen Individuum und Gesellschaft. In diesem Sinne gibt es Verantwortung des Einzelnen nicht, weil es sie gibt, sondern weil wir wollen, dass es sie gibt. Wir, die Gesellschaft, verdammen den Einzelnen zur Verantwortung, aus der Not heraus. De facto, davon abgeleitet, gibt es keine individuell zurechenbare Schuld oder Unschuld, keine individuell zurechenbare Gerechtigkeit, die man Opfern zuteil werden lassen könnte. Es gibt sie, obwohl wir jeden Tag anders handeln, für alle, oder es gibt sie gar nicht. So wie es Kapitalverwertung nur ganz und gar, lückenlos, gibt, oder es gibt sie gar nicht. Dass es sie gibt, erkennt man nicht daran, dass die Telekom 30.000 Mitarbeiter entlässt. Die werden für die Funktion, für die sie gerade tätig sind, vielleicht unabhängig davon, dass es Kapitalverwertung gibt, nicht mehr gebraucht. Schlimm ist nur, dass man sie, weil es Kapitalverwertung lückenlos gibt, überhaupt nicht mehr haben will. Man stellt sie aufs Abstellgleis, oder man zwingt sie, für einen Hungerlohn irgendeinen Dreck zu machen.

    Mikis, der sich Sozialist nennt, glaubt an individuelle Schuld noch dort, wo sie nachweislich nicht einmal auf der individuell-subjektiven Ebene gegeben ist, auch wenn es, keine Frage, gesellschaftliche Verantwortung gibt, die darauf zielt, sich um Opfer zu bekümmern, aber dann bitte schön um alle Opfer dieser Welt. Die gibt es nicht zu knapp. Nicht weniger gravierend als früher. Dieser Verantwortung für alle wird der Film nicht dadurch gerecht, indem er im Nachspann kurz darauf hinweist, dass er sich als Stimme für alle Opfer verstehen möchte, ein Lippenbekenntnis, das implizit nur Schuldige und Unschuldige zeigt in der Annahme, dass es etwas gäbe, dass sich aufrechnen ließe: Hier was weg, dort was hin. Ich kann immer nur wieder den einen Satz aus der Filmbesprechung “Gabrielle” zitieren (siehe www.film-und-politik.de): “Kinder können gemäß ihrer Natur nicht anders fragen als nach eigener und fremder Schuld.” Aber dürfen Erwachsene sich darauf reduzieren? Ich meine, nein. Das wissen auch Argyris und seine Mitstreiter, gefühlsmäßig in jedem Fall. Nur sprechen sie es nicht deutlich aus. Schließlich gibt es da ja noch Verhandlungen um Entschädigungszahlungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Gründe über Gründe, die es geraten erscheinen lassen, sich in der Öffentlichkeit möglichst missverständlich zu äußern: an einer Öffentlichkeit mitzustricken, dazu angetan, uns buchstäblich um den Verstand zu bringen.

    Allgemeiner formuliert: den Akzent der Argumentation auf Interessen zu legen, die Verallgemeinerungsfähiges nur suggerieren, verstellt den Blick dafür, dass es eine prinzipielle Differenz gibt zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen singulären und allgemeinen Interessen, zwischen Subjekt und Objekt, eine Differenz, die sich nicht schließen lässt.

    Wir erleben jeden Tag, wie Menschen versuchen, die Differenz zwischen (inter)subjektiven und gesellschaftlichen Ansprüchen nachhaltig kurz zu schließen, so wenn Oskar Lafontaine für Folter an Kindesentführer plädiert, wenn dadurch unschuldige Kinder gerettet werden können. Ein gedanklicher Kurzschluss tut sich hier im Denken und Handeln auf. Oskar weiß nicht zu ermessen, dass es zwingend und fundamental unterschiedliche soziale Ebenen gibt, eine gesellschaftliche einerseits, die primär, und andrerseits eine sozial-individuelle: eine intersubjektiv, bzw. interaktive Ebene, eine Ebene, in der Menschen unmittelbar verkehren. Das Subjekt ist nur außersubjektiv begreifbar noch bevor von der gesellschaftlichen Ebene die Rede ist. Wie gesagt, das Individuum oder Subjekt als solches gibt es nicht, auch wenn vom Individuum immerzu die Rede ist, vom Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft.

    Doch muss – dies die andere Seite der Medaille – dieses Spannungsfeld als der Bearbeitung zugänglich begriffen werden. Massengesellschaften hinterlassen, wohl wahr, Wunden, die sich nicht vermeiden lassen, die – weil wir es als gesellschaftliche Wesen wollen, nicht weil es vernünftig ist! – sich gleichwohl nicht unversöhnlich-antagonistisch ausleben dürfen, wenn wir als Gesellschaft nicht scheitern wollen, wie ich im Jahre 2005 in einem umfassenderen Kontext versucht habe zu formulieren:

    “Auch wenn es eine Differenz gibt zwischen profan-interaktiver und gesellschaftlicher Praxis, zwischen Subjekt und Gesellschaft, so darf diese Differenz dem Prinzip nach nicht unüberwindlich sein, hintergehbar das einzelne Subjekt zum Schuldigen abstempeln (...) Die Differenz zwischen Subjekt und Gesellschaft ist mitnichten überwunden durch interaktive Praxis allein, wo der Akzent naturgemäß auf Moral liegt. In der Moral einer sprachgestützten interaktiven Praxis (Habermas) wird zwar immerzu von der Bedingung der Möglichkeit gelingenden Lebens gesprochen, doch innerhalb welchen überfamiliären Rahmens? Es bleibt das Problem einer konstruktiven Überführung von konkret interaktiver Praxis in eine der Vergesellschaftung. Der Gang einer Überführung muss formulierbar sein und am Ende substanziell formuliert werden. Es reicht nicht, den (funktionalen) Körper einer Gesellschaft unspezifisch mit Intersubjektivität kurz zu schließen (...) Eine allein nur postulierte Beziehung zwischen Subjekt und Gesellschaft bleibt subjekt-objekt-dualistisch verdunkelt, wenn sie nichts zu sagen weiß von der Rolle eines konkret-menschlichen Handelns, das einen Interaktionsteilnehmer ganz konkret zu einem gesellschaftlichen Subjekt in überfamiliärer Perspektive macht, bzw. werden lässt – unbenommen davon, dass familiäre Strukturen und Beziehungen eine wichtige Rolle spielen. Um die überfamiliäre Perspektive zu leugnen, das Familiäre betonend, stützen manche sich auf die frühmarxistische Denkfigur, derzufolge der Mensch (und seine Familie) – selbst im Negativ ihrer Zerstörung durch überfamiliär-ökonomische Entwicklungen – unmittelbar gesellschaftlich, ohne dass eine konkret-spezifische Faktizität sichtbar würde, die der späte Marx als eine analysierbare ökonomische Faktizität herausgearbeitet hat (...) Ohne eine solche Faktizität gerinnen gesellschaftliche Fragen allein nur zu moralischen Fragen, um ggf. und im Zweifel den ökonomischen Agenten zu einem Subjekt zu stempeln, dem Schuld prinzipiell anhaftet, um Gesellschaftliches und ihre Politik unhinterfragt zu entlasten, um nicht zu sagen: Gesellschaft und ihre Ökonomie bleiben unanalysiert amorph von dunklen Mächten getrieben. Dagegen steht eine Ökonomie, die in der Tendenz immer mehr zu einer Angelegenheit instrumenteller Vernunft wird als Voraussetzung egalitärer Strukturen, wobei der instrumentell-systemsteuernde Charakter den Makel des visionär Utopischen, mit dem Egalität und Klassenlosigkeit bisher verknüpft, verblassen lassen wird.” (aus “Kritik der instrumentellen Vernunft”, www.film-und-politik.de /Kommunikation).

    Doch auch unabhängig von Fragen nach ökonomischen Strukturproblemen sind wir als gesellschaftliche Wesen gehalten zu lernen, mit der Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft sozialverträglich zu leben. Wolfgang Schäuble scheitert an diesem Spannungsfeld mit geradezu gemeingefährlichen Folgen. Er möchte die Unschuldsvermutung im Falle von Gefahr im Verzug durch Terror nicht mehr gelten lassen, aus Mitleid mit oder Verantwortung gegenüber möglichen Opfern. Überhaupt, als sei Terror etwas anderes als eine kriminelle Handlung. Jemanden töten (wollen) ist verbrecherisch. Und gehört entsprechend verfolgt. Punkt. Mehr ist nicht. Doch will man was anderes. Man will die despotische Demokratie. Dafür will man die rechtlichen Voraussetzungen lückenlos schaffen – für einen späteren Faschismus? Fest steht, es wird immer unübersehbarer: Politiker führen das Wort Demokratie als Allgemeininteresse nur als Lippenbekenntnis vor sich her. Sie verfolgen andere Ziele als wirkliche Teilhabe.

    Nehmen wir ein weiteres aktuelles Beispiel, in dem gleichfalls die sozialen Ebenen (Inter)Subjektivität und Gesellschaft gleichgeschaltet werden, das kürzlich in den Medien herumgeisterte, nämlich die Frage, ob man das ehemalige RAF-Mitglied Christian Klar begnadigen dürfe oder nicht. Dieser wurde, u.a. wegen Mordes an Siegfried Buback, zu mehrmals lebenslanger Haft verurteilt. Um über ein Gnadengesuch zu entscheiden, befragte Bundespräsident Köhler ausgerechnet den Sohn des Ermordeten, Michael Buback, obwohl dieser aus seiner Opferrolle heraus zur Entscheidungsfindung substanziell nichts beitragen kann. Tatsächlich kann die subjektive Befindlichkeit des Opfers nichts beitragen, so leidvoll diese auch sein mag, ja gerade deshalb darf sie keine Rolle spielen. Das einzige Kriterium für eine Entscheidung kann nur sein, ob von dem Straftäter zukünftig Gefahr für die Gesellschaft ausgeht oder nicht – noch einmal: weil wir es (als gesellschaftliche Wesen) wollen, nicht weil es begründbar, resp. vernünftig, gerecht, logisch oder was auch immer ist. Allein schon irgendwelche Begründungszusammenhänge bergen stets die Gefahr in sich, die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft kurz zu schließen. Davon abgesehen suggeriert der Gnadenbegriff, der Straftäter könne über seine Gesellschaftsfähigkeit hinaus etwas tun, um sich der Gnade für würdig zu erweisen, z.B. indem er bereut oder um Verzeihung bei den Opfern bittet, wie es Gläubige als ausgewiesene Experten im Verzeihen gern haben.

    Richtig ist, es darf – in erster Linie, weil wir es wollen – keine Rolle spielen, ob der Straftäter Reue zeigt oder Aussagen zum Tathergang macht, die er schon damals vor Gericht nicht gemacht hat, aus welchen inneren Motiven auch immer. Diese lassen sich beweiskräftig, um nicht zu sagen: gerichtsfest, nicht befragen. Gläubige wollen unentwegt das Herz befragen, obwohl sie wissen, dass es sich gar nicht befragen lässt, man in das Herz eines Menschen gar nicht hineinschauen kann, so sehr man es sich auch wünscht. Aus all diesen Erwägungen heraus ist es nicht nachvollziehbar, warum unser Bundespräsident Köhler das Opfer Michael Buback befragt, um zu einer Entscheidung zu kommen. Was will er von ihm. Hören, dass man guten Gewissens Gnade walten lassen dürfe?, weil Klar neuesten Ermittlungen zufolge nicht geschossen hat oder nicht auf dem Motorrad saß? Die Verdienste von Michael Buback liegen woanders: dass er sich als Opfer mit dem Täter an einen Tisch setzt, was einer Aussage von Kulturstaatsminister Neumann zufolge unerträglich sein soll. Was darauf hinausliefe, dass Versöhnung, wohl der wichtigste menschliche Wert überhaupt, als öffentliche Angelegenheit nicht präsent sein darf. Es ist schon erschreckend, wie naiv und mit welcher Unbildung, ja Orientierungslosigkeit höchste Staatsämter mit unserer Verfassung umgehen, um nicht zu sagen, sich gegen ihren christlichen Geist, der auf Versöhnung zielen muss, vergehen. Als ginge es darum, jemanden eingesperrt zu lassen oder von der Öffentlichkeit abzusondern, weil Opfer sich sonst angeblich nur respektlos behandelt fühlen können. Opfer mögen sich wohl fühlen oder nicht, wenn Straftäter vorzeitig entlassen werden. Das darf bei der Entscheidungsfindung keine Rolle spielen. Schon gar nicht ist es legitim, ehemalige Straftäter aus Funk und Fernsehen zu verbannen, wie es Neumann fordert, als seien öffentliche Medienereignisse dazu da, persönliche Befindlichkeiten von Neumann zu befriedigen. Als seien sie, fast möchte man sagen: private Veranstaltungen zur Befriedigung privater Gefühle.

    Apropos christlich: Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen: wollen wir eine Gesellschaft, die sich unmittelbar dafür verantwortlich fühlt, dass der einzelne, er mag sich nun als Opfer sehen oder nicht, sich wohl fühlt? Dafür kann die Gesellschaft nicht verantwortlich zeichnen. In diese Richtung äußerte sich die gläubige Vizepräsidentin des Bundestags Antje Vollmer, ohne zu wissen, was sie da eigentlich sagte, wahrscheinlich bei Christiansen oder so: Politiker können nicht für das Lebensglück oder Unglück des einzelnen verantwortlich gemacht werden. Das sagte sie vielleicht aus einer christlichen Perspektive heraus: Glück sei nur durch Gott hindurch oder mit Gott im Herzen möglich: durch Glauben. De facto schwadronierte sie sich aus der Verantwortung: Es ist ein Unterschied, ob man sich für die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen, in denen Menschen ihr Glück suchen, nur vermittelt, und damit gesellschaftlich verantwortlich fühlt, oder ob der Politiker unmittelbar das private Glück des Einzelnen im Auge hat, so Gläubige sich gern verstehen: Glück durch Glauben, für den sie gerne stehen, als Vorbild, auf dass Glück unmittelbar zuteil werde durch Gott im Herzen. Als Surrogat von Vergesellschaftung, denn gesellschaftliche Entwicklungen haben sich durch gläubige Menschen noch nie beeindrucken lassen. Nichts als Dreck: auf Gott vertrauen und alles wird gut: über den Glauben die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft kurzschließen. Blöd wie Stroh, pardon Antje, aber auch Du wirst die Notwendigkeit dieser Differenz in diesem Deinem Leben wohl nicht mehr sehen wollen. (siehe dazu auch: “Fossile Reflexe – Gott vergib ihnen, denn...”, in: www.film-und-politik.de /Kommunikation)

    Ich habe immer wieder zu beschreiben versucht, wie und warum singuläre Interessen de facto in eins gesetzt werden können mit allgemeinen Interessen oder wie das private Interesse das gesellschaftliche Interesse infiziert (siehe v.a. “Tausch, Vergesellschaftung, Moral”, in: www.film-und-politik.de /Programmatik), als gäbe es zwischen beiden Seiten, zwischen Individuum und Interaktivem einerseits und Gesellschaft andrerseits, eine natürliche Koinzidenz oder Übereinstimmung. Eine solche Ineinssetzung lehne ich ab, ohne damit einem naturwüchsig-unversöhnlichen Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft das Wort reden zu wollen, der sich hinter dem Rücken immer dann gern ausbildet, wenn Menschen mit ihren sozialistischen Idealen und Visionen – eine Widersinnigkeit, den Sozialismusbegriff ideell einzukleiden – die Gesellschaft traktieren, sobald sie denn mal zur Macht gekommen sind. Sie meinen es nur gut, wie die Kommunisten im real existierenden Sozialismus, der, Gott sei Dank, zugrunde gegangen ist. Natürlich, weil es eine Subjekt-Objekt-Koinzidenz nicht gibt – sie ist zutiefst undemokratisch –, ist ein allgemeines Interesse zur Herstellung derselben substanziell nicht begründbar, so sehr ich davon überzeugt bin, dass wir als Subjekte immer wieder lernen müssen, ein permanenter Prozess, uns als gesellschaftliche Wesen zu begreifen und zu handeln, gerade im Sinne von Opfern dieser Gesellschaft oder vergangener gesellschaftlicher Entwicklungen. Ich möchte nicht verhehlen, dass es sich hier um eine Grundsatzentscheidung handelt, um ein Wollen im Sinne eines kategorischen Imperativs, das fragt: was will ich über meine einzelne (Opfer)Existenz hinaus, um mich aus dem Opferdasein heraus zu bewegen, um mich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlen zu können.

    Sicher ist, Opfer wollen für die Gesellschaft mehr sein als nur Opfer, auch wenn schwierig zu benennen ist, was der verallgemeinerungsfähige Gegenstand sein soll? Wollen ist immer prekär, birgt die Gefahr von Defensive in sich. Setzt sich der Gefahr des Neids aus, sich zu blamieren. Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Gibt es überhaupt ein formulierbares Anliegen, das über bloße (Opfer)Existenz hinausginge? Opfern des NS-Regimes fällt umso schwerer, ein solches zu benennen, je schlimmer ihrer Erlebnisse waren. Trotzdem wollen sie Normalität: wie normale Bürger behandelt werden, wie Henryk Broder in vielen Talksendungen und Zeitungsartikeln immer wieder betont. Und er hat natürlich recht, unabhängig davon, was man sonst von ihm halten mag. Politiker wie Köhler, Neumann und Vollmer begreifen nicht, wie sie an dieser Aufgabe immer wieder scheitern: sie versubjektivieren den gesellschaftlichen Kontext ganz und gar. Sie weichen das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft auf. Sie meinen es gut, wollen aus ihrer christlichen Perspektive heraus versöhnen und schaffen in Wirklichkeit böses Blut bis hin zur Unversöhnlichkeit, und zwar auch vor dem Hintergrund, dass unversöhnliche Gegensätze hinter dem Rücken der Gesellschaftsmitglieder ökonomisch befördert werden. Das heißt: Konflikte werden auch zunehmend hinter dem Rücken ökonomisch ausgebrütet und bekommen durch herrschende Politik eine alles zuscheißende moralinsaure Glasur verpasst, v.a. durch die Schuld-Unschulds-Litanei, das Gute betonend, damit moralische Konflikte nicht auch als ökonomische Konflikte wahrgenommen werden müssen. Wobei ich hier den Akzent auf dem Wörtchen ”auch” legen möchte, dafür plädiere, dass Moral unabhängig von Ökonomie diskutierbar sein muss, weil ich durchaus weiß, dass der Mensch allein aus sich selbst heraus nicht unbedingt “gut” ist.

    Dass Moral als solche zu diskutieren ist, begreifen insbesondere unsere selbsternannten Marxisten nicht: Der Mensch ist böse durch das böse Kapital, ansonsten wäre er gut. Sie sind nicht weniger dumm als diejenigen, die sie bekämpfen. Wir sind, auch was die Dummheit unter Linken betrifft, immer noch nicht am Ende der Fahnenstange angelangt. Es geht immer wieder noch ein wenig dümmer, seit bald 40 Jahren.

    Unbenommen davon, dass Moral als solche diskutierbar sein muss, gilt: es werden seit 32 Jahren soziale Unversöhnlichkeiten in dem Maße befördert, wie innerhalb eines gegebenen Wirtschaftsraums, zunehmend auch bei uns, ökonomische Strukturen und Verhältnisse sich immer enger für immer mehr Menschen gestalten, wie Marx in seinem Hauptwerk “Das Kapital” zu beweisen suchte. Dort ist – brandaktuell – von einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit die Rede: von einem Kapitalverwertungsprozess, der sich immer weniger sozialverträglich gestalten lässt, solange seine Regeln lückenlos gelten. Eine Trennung von Moral und Ökonomie ist aber plausibel, wenn man bedenkt, dass das Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Individuum auch unabhängig von Kapitalverwertungsproblemen überall dort besonders intensiv zutage tritt, wo Menschen zu Opfern grausamster Verbrechen werden oder geworden sind. Unversöhnlichkeiten werden durch ökonomische Strukturprobleme nur unausweichlich, unlösbar nicht bezogen auf einzelne Fälle dort, wo Reichtum sich ausbilden konnte, wie z.B. in Europa, sondern im statistischen Mittel, als globale Tendenz. Gestern traf es im wesentlichen die Entwicklungsländer, während die Industrieländer zugleich ihren Reichtum entwickeln konnten – auf Kosten der Entwicklungsländer. Heute und morgen trifft es auch die sogenannten reicheren Länder.

    Zurück zum Film in zusammenfassender Absicht: Er legt im Sinne einer Versubjektivierung gesellschaftlicher Zusammenhänge den Akzent zu sehr auf das einzelne Subjekt und seine Rechte. Es werden Rechte gewährt, zum Beispiel auf Entschädigung, um dem Subjekt genüge zu tun, damit es sich als gesellschaftliches Wesen verabschiedet. Auf gut Deutsch: damit es seine Schnauze hält und nicht weiter nervt. Zu diesem Zweck erklärt man unter fleißiger Mithilfe des Opfers den Rechtsanspruch auf Entschädigung zu einem verallgemeinerbaren Interesse im Rahmen einer Gesellschaft, deren sozialen und ökonomischen Reproduktionsstrukturen man für unproblematisch hält, wobei das Entschädigungsinteresse vom Interesse nach strukturellen Bedingungen gesellschaftlicher Reproduktion ablenkt in dem Maße, je verbissener das Interesse auf Entschädigung fokussiert wird, fast möchte man meinen: im Sinne einer biologischen Übersprunghandlung, wie man sie bei Hühner beim Picken beobachten kann.

    Des weiteren suggeriert der Film ein verallgemeinerbares Interesse im Nachspann. Dort ist auf einem Schriftzug vermerkt: Die Opfer von Distomo stünden stellvertretend für Opfer, die es heute immer noch gäbe, fast als wolle sich der Film im Nachhinein dafür rechtfertigen, dass er über Opfer der NS-Zeit spricht. Ich finde das zumindest fragwürdig, weil von heutigen Opfern im Film gar nicht die Rede ist. Man tut, als könne man ohne weiteres für Opfer der heutigen Gesellschaft sprechen, sie ebenfalls abspeisen in einem Schriftzug. Auch Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland mögen es zwar zurecht nicht für ausreichend empfinden, allein immer nur gegen den Antisemitismus anzukämpfen, wiewohl sie einen allgemeineren Ansatz, der alle Opfer, andere Völker, mit einbezieht, nicht zureichend begründen. Mahnungen ganz generell gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit lassen auf völlig unzulängliche Weise den Antisemitismus in einem allgemeineren, resp. allgemeinpolitischen Kontext erscheinen. Dabei muss sich der Zentralrat der Juden fragen lassen, ob er denn glaubwürdig für andere Opfer sprechen könne, wo doch ein Anspruch, der alle Menschen einbezieht, unvermeidlich den Blick auf die prekäre Lage der Palästinenser zieht, diese sich vielleicht nicht ganz zu unrecht vom jüdischen Staat rassistisch behandelt fühlen, wiewohl das palästinensischen Terror nicht die Spur rechtfertigt.

    Ich möchte trotzdem eine Lanze für den Film brechen, gerade weil er den Blick unmittelbar lenkt auf leidende Menschen. Man mag um Verobjektivierung nicht herumkommen, so oder auch anders. Richtig ist aber auch, dass mit der subjektivistischen Perspektive immer alles anfängt. Eine unvermeidliche Quadratur, der man nicht ausweichen kann. Hinzu kommt, offener Leidensdruck hat es von vorn herein nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen oder ernst genommen zu werden, weil zu oft zu viel Ungesagtes ungesagt bleibt, nicht gesagt werden darf, verdrängt oder einfach nur nicht gesehen wird. Vor allem ist riskant, wenn man nicht nur für die einzelne Existenz sprechen möchte. Dieses Wagnis ist in diesem Film spürbar, während es andere Filme zu oft vermissen lassen. So zwei andere Dokumentationen, die demnächst in die Kinos kommen. Dort wird gesellschaftlicher Kontext mehr postuliert, als wirklich eingelöst: Der eine Film, “Der Unbequeme – Der Dichter Günter Grass”, gefällt sich als Festgesang auf Günter Grass. Der andere, über den Filmemacher und Schauspieler “Bernhard Wicki”, zeigt lediglich, wie ein Mensch an Sinngebungsversuchen verzweifelt. Das allein wäre gar nicht schlimm, wenn derartige Filme und ihre Protagonisten nicht mit einem gesellschafts- und sozialkritischen Anspruch daherkämen, insbesondere Grass, der es sich nicht verkneifen konnte, im Film zu demonstrieren, wie gut er sich mit Gerhard Schröder versteht: Küsschen hier, ein Bussi dort. Mit einem Menschen, der Hartz IV wie kein anderer durchgeboxt hat, gegen eine Minderheit. Nach dem Film durfte diskutiert werden. Es wurden von der Bühne aus Ergebenheitsfragen gestellt. Ich fragte Günter Grass, ob er mir sagen könne, wo er im Film als Unbequemer auffalle. Funkstille. Auf die weitere Frage – sie wurde niedergebuht –, ob es ihm nicht peinlich sei, durch den Film und jubilierende Zuschauer auf ein Piedestal gestellt zu werden, antwortete er: Nein. Denn in Deutschland werde viel zu wenig gelobt.

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