Mein Konto
    Willkommen bei den Sch'tis
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Willkommen bei den Sch'tis
    Von Jonas Reinartz

    „Über 20 Millionen Franzosen können sich nicht irren”, heißt es selbstbewusst auf dem deutschen Plakat der Erfolgskomödie „Willkommen bei den Sch’tis”. Um genau zu sein, 20,7 Millionen – in jedem Fall eine schier unglaubliche Zahl. Allein James Camerons Titanic kam an den gallischen Kinokassen noch besser an und der Rekord für einheimische Filme, der bislang unangefochten von dem Louis-de-Funès-Vehikel „Die große Sause“ (17,27 Mio.) gehalten wurde, ist pulverisiert. Eine der Hauptattraktionen des Films um einen in die Region Nord-Pas-de-Calais strafversetzten Postbeamten ist der lokale „Ch’ti“-Dialekt (auch bekannt als „Picard“), der - beeinflusst vom Flämischen - selbst so manchen muttersprachlichen Franzosen vor erhebliche Verständnisprobleme stellt. Dieses Kauderwelsch angemessen ins Deutsche zu übertragen, war keine leichte Aufgabe, denn die Übersetzung in eine deutsche Mundart (etwa das Schwäbische) hätte schlicht deplatziert gewirkt. Folglich entschloss sich der deutsche Verleih Prokino, eine neuartige Kunstsprache zu entwickeln, was sicherlich grandios hätte scheitern können, doch wider Erwarten gelang. Vor allem Christoph Maria Herbst (serie,19) als Sprecher von Regisseur, Co-Autor und Nebendarsteller Dany Boon, der hierzulande am ehesten durch seine Rollen in Merry Christmas und Mein bester Freund bekannt ist, kann begeistern. Im Nu hat man sich an die eigenwillige Sprache gewöhnt und lacht herzlich über das warmherzige Feel-Good-Movie, das ganz ohne moralischen Zeigefinger auskommt und seine positive Botschaft überzeugend vermittelt.

    Philippe Abrams (Kad Merad) ist Filialleiter einer kleinen Poststelle in der Provence. Aufgrund der Launen seiner Ehefrau Julie (Zoé Félix) bemüht er sich seit einiger Zeit, an die sonnige Cote d´Azur versetzt zu werden, um ihr wankelmütiges Gemüt etwas aufzuheitern. Dank der Bemühungen seines Freundes Jean (Stephane Freiss) gelingt es ihm beinahe, die begehrte Stelle zu ergattern, doch ein Konkurrent erweist sich als behindert und wird daher bevorzugt. Bei der nächsten Bewerbung möchte Philippe nicht erneut leer ausgehen und gibt sich trotz großen Bedenken seitens Jeans als Rollstuhlfahrer aus. Prompt wird er bei einer routinemäßigen Kontrolle der Behörden als skrupelloser Betrüger entlarvt – und in den ungeliebten Norden Frankreichs strafversetzt. Über die Region und besonders deren angeblich besonders einfältigen Einwohner werden sich im Süden oft wahre Horrorgeschichten erzählt. Insbesondere die primitive Sprache der Nordfranzosen steht häufig im Zentrum der Kritik. Dementsprechend demotiviert macht sich Philipp ohne seine Frau und den gemeinsamen Sohn Raphaël (Lorenzo Ausilia-Foret) auf den Weg. Kaum an seinem neuen Arbeitsort Bergues angekommen, begegnet Philippe seinem Kollegen Antoine Bailleul (Dany Boon) und versteht zunächst einmal kein Wort…

    Doch was genau muss man sich unter „Sch’ti“, wie es in der deutschen Fassung heißt, vorstellen? Als erstes fällt auf, dass aus allen „S“-Lauten ein „Sch“-Laut (im Original: „c“ zu „ch“) wird. Hinzu kommen diverse eigene Vokabeln. Missverständnisse sind da freilich vorprogrammiert, was genüsslich ausgekostet wird, doch zu keinem Zeitpunkt zu Ungunsten der Protagonisten. Zwar amüsiert ihre schrullige Artikulation köstlich, doch der Lächerlichkeit werden sie nie preisgegeben, was nicht zuletzt daran liegt, dass Regisseur Boon selbst aus besagter Region stammt und nach eigener Aussage bis zu seinem zwölften Lebensjahr kaum ein Wort „ordentliches“ Französisch sprach. Bereits in seinen populären Bühnenshows - eine dazugehörige DVD verkaufte sich stolze 600.000 Mal - setzte er seiner Herkunft und Sprache ein humoristisches Denkmal und parodierte sie liebevoll.

    Von der Bühne zur Leinwand ist es ein gewaltiger Sprung, den Boon allerdings bemerkenswert meistert. In seiner nach „La Maison du Bonheur“ (2006) zweiten Regiearbeit zeigt er ein gutes Gespür für Timing und Schauspielführung. Eine gute Entscheidung ist zudem die Verpflichtung von Kameramann Pierre Aïm, der schon so unterschiedlichen Filmen wie Hass – La Haine und „Im Juli“ sein geschultes Auge lieh. Er sorgt für visuelle Dynamik und kompetent komponierte Einstellungen. Philippe Rombis Musik ist zweckdienlich und vermeidet überflüssigen Zuckerguss. Gänzlich ohne manipulative Mittel wird eine zeitlose Botschaft von Toleranz und Offenheit verbreitet. Originelles wird man in formaler Hinsicht, sieht man einmal von der verspielten Credit-Sequenz, in der auf einer computeranimierten Karte statt der jeweiligen Orte die Namen der Beteiligten eingeblendet werden, nicht finden. Doch das Gebotene genügt den Ansprüchen des Genres vollkommen.

    Neben dem bereits erwähnten Sprachwitz, der vorbildlich übertragen wurde, ist es vor allem Situationskomik, mit der „Willkommen bei den Sch’tis“ punktet. Als ein Beispiel hierfür sei der unerwartete Besuch eines Kontrolleurs bei Philippe genannt. Wie er einen noch verschweißten Rollstuhl eilig auspackt, dabei einen Reifen beschädigt, sich mühsam durch das Gespräch manövriert, den Erfolg schon vor Augen hat und dann am Schluss durch eine Unachtsamkeit doch wieder alles vergeigt, ist einfach urkomisch. Nicht alle Szenen sind derartig gelungen und die Gags gelegentlich auch vorhersehbar, Leerlauf stellt sich jedoch nie ein. Am besten ist der Film ohnehin, wenn er die Klischees über den Norden aufs Korn nimmt. Da wird Philippe von jedem, der von seinem Schicksal erfährt, sofort bemitleidet, inklusive eines Streifenpolizisten, dessen Auftritte Running-Gag-Charakter besitzen. Ansonsten wird Nord-Pas-de-Calais als kalte, unwirtliche Horrorlandschaft beschrieben, die dem Ende der Welt gleichkommt.

    Höchst amüsant ist in diesem Zusammenhang der Gastauftritt von Michel Galabru, der den meisten Zuschauern noch als Vorgesetzter von Louis de Funès in den sechs „Gendarme“-Filmen in Erinnerung sein düfte. In unheimliches Halbdunkel getaucht, berichtet er seinem geschockten Zuhörer von den Schrecken des unbeliebtesten Teils Frankreichs. Somit reiht er sich mühelos in ein perfekt harmonisierendes Ensemble, an dessen Spitze Kad Merad (Keine Sorge, mir geht’s gut, Paris, Paris, Kann das Liebe sein?) als miesepetriger Beamter steht, der allmählich lernt, seine Vorurteile hinter sich zu lassen. Boon selbst, präzise synchronisiert von Christoph Maria Herbst, fühlt sich sichtbar wohl in seiner erprobten Rolle als herzensguter Naivling und auch die Chemie mit seinem Love Interest, der charmanten Anne Marvin, stimmt.

    Fazit: Auch wenn den meisten deutschen Zuschauern die Problematik, auf die sich „Willkommen bei den Sch’tis“ stützt, unbekannt sein dürfte, handelt es sich doch um ein so universelles Thema, dass es sich wohl in jedem Land der Erde nachvollziehen lassen dürfte. Auch ein unvermeidliches US-Remake, das von Will Smith produziert werden soll, ist bereits in Planung. Dass sich hierzulande ein ähnlicher Erfolg wie in Frankreich einstellen wird, ist natürlich illusorisch. Trotzdem ist „Willkommen bei den Sch´tis“ eine der besten Komödien der letzten Zeit, die weniger auf Brachialhumor und dafür mehr auf quirlige Charaktere und das clevere Spiel mit hartnäckigen Vorurteilen setzt.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top