Pixar - der Name ist ein echtes Gütesiegel und steht für altersunabhängige Unterhaltung auf durchgängig hohem Niveau. Die Unkenrufe derer, die beim Amtsantritt der kalifornischen Animations-Werkstatt vor nunmehr fünfzehn Jahren besserwisserisch behaupteten, Filme, die komplett am Rechner entstünden, könnten niemals mehr sein als seelenlose Technikspielereien, sind längst verhallt. Besessener Kreativitäts- und Innovationsgeist sowie die Bereitschaft zu Risiken sind und waren die Schlüssel zum Erfolg. Up, die Geschichte eines mürrischen Rentners, der sich mit Händen und Füßen gegen die Abschiebung ins Seniorenheim wehrt, durfte als erster Animationsfilm überhaupt im letzten Jahr die Filmfestspiele von Cannes eröffnen. Und Ratatouille um ein Nagetier mit ausgesprochenem Kochtalent wird von Fans und Feuilleton gar als legitimer Nachfolger der großen Disney-Klassiker gehandelt. Apropos: Der Maus-Konzern hat Pixar ja inzwischen geschluckt, was einigen schon jetzt Kopfzerbrechen wegen möglicher Einschränkungen des kreativen Spielraums der Kalifornier bereitet.
Ihr neuer Film “Toy Story 3” - so viel kann vorweggenommen werden - bestätigt diese Befürchtungen nicht. Die genialen Pixar-Köpfe kehren unter der Regie des “Findet Nemo”-Co-Regisseurs Lee Unkrich zu ihren Anfängen, zu den Wurzeln des Erfolgs zurück; ein Wiedersehen gibt es mit Woody, Buzz Lightyear
und den anderen lieb gewonnenen Spielzeugfiguren, die unbemerkt von den Menschen ein Eigenleben führen. Die Animation ist anno 2010 nun eher zweitrangig, aber natürlich immer noch state of the art. Pixar folgte zudem dem 3D-Trend. Das Ergebnis kann sich sehen lassen und rechtfertigt den Preiszuschlag durchaus. Mal sehen, ob Paul W.S. Anderson die Vorteile der dritten Dimension ebenso geschickt ausspielen kann, wenn Milla Jovovich in Kürze in “Resident Evil: Afterlife” wieder Zombies niedermäht. Wo DreamWorks in der ersten Jahreshälfte den vierten “Shrek” rausgehauen hat und sich mancherorts den Vorwurf der Konzept-Abnutzung gefallen lassen musste, wirkt “Toy Story” im dritten Anlauf jedenfalls so frisch und unverbraucht wie eh und je.
Der Einstieg in den Film suggeriert schon das Beschreiten neuer Wege: Eine mit Slapstick im Laufschritt versehene, zwischen Wildwestparodie und Superheldenphantasie angesiedelte Befreiungsaktion von Woody & Co. auf einem fahrenden Zug gibt den Blick auf die Grenzenlosigkeit einer längst verblassten Kindheit frei. Das ist die Marschroute des Films: Andy, vom Kind zum Teenager herangewachsen, interessiert sich für seine Spielsachen nicht mehr. Sie versauern in einem Pappkarton in der Ecke seines Zimmers. Der bevorstehende Tapetenwechsel - Andy geht auf`s College - wirft die Frage nach der Zukunft der Spielzeuge auf. Dachboden oder Mülleimer lauten die Optionen. Jedoch kommt es ganz anders: Über Umwege landen die Figuren in einer Kindertagesstätte. Dort scheint zunächst das Paradies auf Erden zu sein. Doch der nach Erdbeeren riechende Plüschbär Lotso ist gar nicht so nett, wie er beim Empfang der Neuankömmlinge vorgibt zu sein. Unter seiner Führung herrscht eine strenge Diktatur. Für Woody (Deutscher Sprecher: Michael “Bully” Herbig, im Original Tom Hanks) und seine Freunde scheint die schon bald angestrebte Flucht unmöglich…
Der stolze Cowboy Woody, der von Sinnkrisen geplagte Space Ranger Buzz Lightyear, der sich zur Rettung der Erde berufen sieht und nicht einsehen kann, dass er nur ein programmiertes Spielzeug ist; der Dinosaurier Rex, die beiden Kartoffelköpfe, das rosa Sparschwein und der “flexible” Hund Slinky Dog - die wichtigsten Charaktere aus Toy Story und Toy Story 2 sind wieder mit von der Partie; ebenso die grünen, mehräugigen Marsmännchen, die im grandios-dramatischen Finale in einer riesigen Müllverbrennungsanlage sogar entscheidend ins Geschehen eingreifen. Bei den “Neuen” möchte man auf keinen einzigen verzichten; weder auf den Theaterstücke rezitierenden Intellektuellen-Igel Sepp Stachel, der Woody erzählt, dass er den lieben langen Tag in der Kindertagesstätte improvisiert; und schon gar nicht auf Lotso, den roten Knuddelbären mit Vorgeschichte, der einen Bösewicht hinlegt, wie man ihn in der Geschichte des Animationsfilms noch nicht gesehen hat. Selbiges gilt auch für seinen apathisch durch die Gegend taumelnden “rechten Arm” Big Baby. Im Synchronisationsstudio saß diesmal das Team der “Bullyparade”. Christian Tramitz übernahm dankbar die Sprechrolle des schmierigen, hoffnungslos von sich eingenommenen Modepüppchens Ken, der sich ständig in die ausgefallensten Fummel wirft, um seiner Flamme Barbie zu gefallen. Sein Gepose ist unbezahlbar komisch.
Der Zusammenhalt und die Freude über stetig nachwachsende kindliche Spielpartner für die Spielzeuge sind bald passé. Nicht nur, dass die kleinen Biester alles andere als behutsam mit ihnen umgehen, die strenge Regentschaft Lotsos und seiner Schergen wird für Woody & Co. immer gefährlicher. Die Fluchtversuche aus dem Hochsicherheitstrakt Kita versprechen Gags en masse, sind gespickt mit Spitzen auf den Horrorfilm und Querbeet-Zitaten wie der frei schwingenden “Mission: Impossible” im Raum des alles überwachenden Affen, der mit einem cleveren Ablenkungsmanöver ausgetrickst wird. Buzz mutiert im weiteren Verlauf nach einem Reset zum schmachtenden Latino-Lover á la Banderas, hält um die Hand des Cowgirls Jessie an, und schafft es dennoch irgendwie, seinen Freunden aus der Patsche zu helfen. Spätestens hier wird klar, dass sich “Toy Story 3” vor seinen Vorgängern nicht verstecken muss.
Die Depressionen und Komplexe der um die Gunst ihres Eigentümers eifersüchtelnden Spielzeuge waren noch das zentrale Thema der ersten “Toy Story”. Nun ist ihr Besitzer erwachsen geworden, die Spielzeuge fühlen sich vernachlässigt und nicht mehr geliebt. Andys Ablösungsprozess bedeutet auch eine gravierende Veränderung und ein Umdenken für die Spielzeuge. Der Film ist eine Liebeserklärung an die Kindheit, die wir alle noch mal “hautnah” erfahren können (weil wir uns vielleicht an unser Lieblings-Spielzeug erinnern). Den Anstoß bei Andy gibt das selige Spielen eines kleinen Mädchens, dem er die Spielzeuge am Ende schenkt.
Pixar schafft keine sterilen Kunstwelten nach Baukasten-Prinzip. In jeder Einstellung und in jedem Charakter stecken Herzblut und Fingerspitzengefühl der Macher. “Toy Story 3” trägt das Herz am rechten Fleck, ist locker und leicht, ohne “dünn” zu wirken. Erfreulich ist, dass man trotz der Übernahme durch den Disney-Konzern nicht “zu viel Disney” sieht, dass Pixar (noch) dominant geblieben ist. Als Entrée zum Hauptfilm gibt es diesmal übrigens den Kurzfilm “Day and Night”. Er handelt vom Aufeinandertreffen zweier Figuren, die - wie der Titel bereits verrät - für den “Tag” und für die “Nacht” stehen.