„Der Andere“ ist ein Film, der seine Faszination aus der selten gesehenen, stillen Beobachtung seines beeindruckend gespielten Protagonisten bezieht. Gesprochen wird nicht viel und in den wenigen Gesprächen, die stattfinden, steckt das Entscheidende meist im Nichtgesagten. Gerade damit aber macht Regisseur Ariel Rotter ein schier überbordendes Fass mit zentralen Gedanken über das menschliche Leben auf. Er selbst sagt, es sei ein Film über „Körper in der Zeit“, und so spielt der in unserer rationalen, mobilen Gesellschaft durch Autos, Hochgeschwindigkeitszüge und Flugzeuge hin- und hergeschobene Körper und seine Vergänglichkeit tatsächlich eine entscheidende Rolle. Ein ganz kleiner Körper, den wir noch nicht sehen können, einer, der Entscheidungen für uns trifft, indem er uns sein Bauchgefühl mitteilt, ein Körper, der in der Blüte des Lebens steht und wieder ein anderer, der im Verwelken begriffen ist: Immer ist der Körper wichtig und das Zentrum der Aufmerksamkeit; er, den wir so oft vergessen, marginalisieren, übergehen.
Juan (Julio Chávez) lebt ein durschschnittliches bürgerliches Leben in Buenos Aires. Er hat einen Job, ist verheiratet und kümmert sich um seinen alternden Vater (Osvaldo Bonet). Als seine Frau (Inés Molina) ihm mitteilt, dass sie schwanger ist, scheint in ihm ein Bewusstsein darüber zu erwachen, dass sich mit Ende vierzig der letzte Rest Entscheidungsfreiheit seines Lebens aufgelöst hat. Auf einer Dienstreise lernt er einen anderen Mann kennen, von dessen Tod er kurz darauf erfährt. Er beschließt, den Namen des Toten anzunehmen und in einer fremden Stadt eine neue Identität zu leben. Dabei erfährt er sich nicht nur selbst neu und anders, sondern auch sein altes Leben.
Nicht zuletzt geht es in „Der Andere“ aber auch um Identität und Freiheit, um Entscheidungen und Alternativen, und wie sie sich gegenseitig ausschließen oder auszuschließen scheinen. Als Juan von der Schwangerschaft seiner Frau erfährt, ist es ein Körper im Körper, der ihm, seinem Körper ein Signal gibt, ob der gravierenden Veränderung, die ins Haus steht. Identität, zumindest die nach außen getragene, wird geschärft, Entscheidungsspielräume schrumpfen zusammen. „Ich bin überzeugt, dass Körper nichts falsch verstehen’ können,“ sagt Rotter und meint damit das Gefühl von Verlust und von Entfremdung gegenüber seiner Frau, dass Juan widerfährt. Als sich ihm die Chance einer neuen Identität zufällig offenbart, greift er nach ihr als einer neuen Alternative. Tatsächlich tut sich ihm eine beinahe märchenhafte Welt auf, voller Geheimnisse und Abenteuer, die nicht zuletzt durch die romantische, nostalgische Architektur des abgelegen Ortes und die umgebene Natur als von seinem Alltag scharf abgegrenzt wirkt. Instinktiv bewegt er sich nunmehr als Doktor Manuel Salazar durch sie hindurch, und zwar zu Fuß. Das Klacken von Absätzen auf Asphalt und Kopfsteinpflaster ist vermutlich das eindringlichste und häufigste im ganzen Film. Es ist das Laufen des Weges, das ihn seinen Körper spüren lässt, das gedämpfte Licht der gedeckten Farben des ländlichen Ortes, eine schöne, namenlose Fremde (María Ucedo). Es sind der Duft des Waldes, in dessen Mitte er unbemerkt beobachtet, wie junge Mädchen an einem Bach nackt baden, aber ebenso eine gefährliche, breite Straße, die er nachts entlangläuft. Diese Situationen übertragen letztlich die Emotionen, die Juan/Manuel seinen Körper spüren lassen, auch auf den Zuschauer. Bei alldem wird nie die feine Grenze überschritten, die das auch sexuelle Sich-neu-Erleben des Protagonisten in ein anzügliches oder gar kriminelles Licht rücken würde. So bricht die Situation immer gerade dann ab, wenn die Spannung eine üble Vorahnung im Kopf erzeugt, oder wird sogar kurze Zeit später ganz herumgedreht und von einer anderen Seite betrachtet.
Dennoch kann Juan sein altes Leben nicht vollständig aus seinem unverhofften Zufluchtsort verbannen. Mit geschickt eingefügten, minimalen visuellen Gesten sticht die Erinnerung an Zuhause immer wieder, kleinen Nadeln gleichsam, in die surreale Freiheit. So erinnern die unter einer Decke herausschauenden Beine einer Frau an seine schwangere Gattin in einer ähnlichen Pose, auf die Juan einen letzten Blick vor der Abreise geworfen hatte. Ariel Rotter: „’Der Andere’ ist ein Paradoxon über das Erinnern durch Vergessen, die Essenz, die jeden von uns einzigartig macht.“ Als er schließlich von der Hotelmanagerin in seiner vermeintlichen Funktion als Doktor zur Wiederbelebung einer alten Dame im Hotel gerufen wird, gerät das Spiel mit den Identitäten an eine kritische Grenze. Aus Manuel wird Juan und obwohl dieser dem Körper, der alten, fast nackten Frau mit einer Mund-zu-Mundbeatmung wieder Leben einhauchen kann, fasst er den Entschluss, zurückzukehren.
Auf dem Weg nach Hause sitzt er alleine, ohne den Anderen, im Bus. Die Dienstreise, die zur Reise ins Ich wurde, ist vorbei. Als er ankommt, antwortet er seiner Frau auf die Frage hin, wo er gewesen sei: „Arbeiten.“ Und das ist vielleicht viel weniger Lüge, als man zunächst annehmen mag. Mit seinem leisen Film zeigt Rotter, dass auch das Leben zunehmend widersprüchlicher Identitäten Arbeit bedeutet, dass unsere vergessenen Körper sich mit ihren Bedürfnissen melden und Arbeit verursachen, fordern. Zurückgekehrt von dieser Arbeit widmet sich Juan wieder „seinem“ Alltag, seinem Vater, seiner Frau, vielleicht weil er weiß, dass es den Anderen in ihm gibt, ihn noch gibt, genau wie noch viele andere Andere.
Ariel Rotters zweiter abendfüllender Spielfilm ist, eine komplexe Tour durch das menschliche Leben aus männlicher Sicht, die ganz ohne Musik und fast ohne Dialog vor allem ihres bestechenden Hauptdarstellers bis zum Schluss fesselnd bleibt. In angenehm knappen 82 Minuten lassen sich im markanten Gesicht und allein in den Augen des attraktiven Hauptdarstellers Julio Chávez ein ganzes Orchester an Gedanken und Emotionen ablesen, das ihm auf der diesjährigen Berlinale verdient den Silbernen Bären als bester Hauptdarsteller einbrachte.