Wer hätte das gedacht: Aus Italien kommen nicht nur Pizza, Mafia und „La Dolce Vita“. Das stiefelförmige Land gilt auch als Geburtsort eines der beliebtesten und akzeptiertesten Glücksspiele der Welt: das Lottospiel. Besonders heftig treiben es die Neapolitaner, wie der Film „Die Träume Neapels“ zeigt. In der süditalienischen Stadt tippen viele der Lottospieler nicht einfach nur irgendwelche beliebigen Zahlen. Sie gehen in eine bestimmte Lottoannahmestelle, um sich hier die persönlichen Glücksnummern aus ihren nächtlichen Träumen ableiten zu lassen. Purer Aberglaube und Hokuspokus? Mit ihrer Dokumentation will Anna Bucchetti veranschaulichen, dass Lotto spielen in Neapel mehr bedeutet als nur Zahlen zu tippen, um am Ende den großen Gewinn abzustauben. Doch hat sich die Regisseurin dabei anscheinend zur sehr auf die durchaus sehenswerte Schwarz/Weiß-Optik sowie verspielte Schnitttechniken konzentriert, als dem Film eine verständliche Struktur zu verpassen.
Lotto spielen in Deutschland sieht ungefähr so aus: Ein Spieler betritt die Tippstelle, füllt wortlos den Lottoschein aus, gibt diesen – ebenfalls meist wortlos – an der Kasse ab, bezahlt, dreht sich um und geht wieder. Beim Lotto spielen in Neapel sieht diese Szene etwas anders aus: Da kommen Menschen sämtlicher Couleur in die „ricevitoria“, eine Lottoannahmestelle der besonderen Art, und beginnen aus ihrem Leben zu erzählen. Die Spieler berichten den Frauen hinter der Kasse von ihren nächtlichen Träumen. Die Lottotipper wollen beraten werden, auf welche Zahlen sie setzen sollen, welche Zahlenkombination für sie die beste ist. Lebendig, manchmal lautstark und immer sehr emotional geht es dabei zu. Wild wird mit den Händen herumgefuchtelt, ausdrucksstark wird das Erzählte mit passenden Gestiken unterlegt. Typisch italienisch eben.
Es ist schon ein amüsantes Bild, welches in den ersten Minuten von „Die Träume Neapels“ entworfen wird. Da erzählt eine Lottospielerin von folgendem Traum: Ihr Vater sei barfuß in eine Wanne mit Wasser getreten. Welche Zahlen der Traum für sie versteckt hätte, fragt sie die Frau hinter der Kasse. Die Lösung: 81 für das Verhältnis Vater-Tochter, 53 für den bloßen Fuß, 39 für Wasser und 4 für die Wanne. Die Zahlen saugen sich die Frauen aus der Lottoannahmestelle nicht etwa aus den Fingern, sondern diese werden im italienischen Buch der Zahlen, der „Grimas“, nachgeschlagen, in dem es für fast jedes Substantiv eine entsprechende Zahl gibt. Der Grund, warum die lottospielenden Neapolitaner dies tun? Viele Spieler in Neapel glauben fest an die Macht der Zahlen, sind absolut überzeugt davon, dass nur die Numerologie, die Zahlenmystik, dem Leben Sinn gibt und auf diese Weise unerklärliche Dinge wie Träume interpretiert werden können. Zwar sehen die italienischen Lottospieler nicht aus wie Karl Koch aus dem Hackerdrama „23“, der felsenfest glaubt, 23 sei die Zahl der Illuminaten, doch gewisse Parallelen lassen sich zwischen der Lebenseinstellung Kochs und der Neapolitaner erkennen.
Aber der Film dringt tiefer in das Glaubenssystem der Lottospieler aus Neapel ein. Durch die Dokumentation sichtbar wird: Was die einen als puren Aberglaube ablegen würden, nämlich das Leben anhand von Zahlen zu interpretieren, ist für die anderen eine wahre Quelle des Seelenfriedens und der Hoffnung. So berichtet ein älterer Geschichtsprofessor von einer armen Frau, die trotz chronischen Geldmangels, immer weiter Lotto spielte. Dies ließe sie wenigstens gut schlafen, denn die Hoffnung auf einen Gewinn, beruhige sie. Lotto spielen in Neapel ist schon immer eine der Lieblingsbeschäftigungen der sozialen Unterschicht gewesen, erfährt der Zuschauer, denn es lässt die Armen auf eine bessere Zukunft hoffen. Das Lottospiel als Ersatzglaube zur Religion. Doch spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die Grenze zwischen Glaube und Sucht verschwimmen.
All diese Einblicke in das Leben von lottospielenden Neapolitanern machen den Film lohnenswert, wenn diese Momente nur nicht so versteckt wären in einer weniger als schwachen Argumentationsstruktur. Da erzählen diverse Interviewpartner ähnliche Geschichten an unterschiedlichen Stellen des Film, so z. B. ein Buchbinder. Der berichtet in seiner Werkstatt von persönlichen Erlebnissen mit Lotto und schlussfolgert nach kurzer Zeit, dass Lotto spielen Fantasie ins Leben bringt, eine Strategie der Lebensbewältigung sei. Etliche Minuten und ein paar Interviewpartner später ist der Buchbinder wieder zu sehen, diesmal im Auto, aber dafür schon wieder alte Lottogeschichten aus seinem Gedächtnis hervorkramend. Diese Redundanz verwirrt mehr als sie seine Lebensgeschichte illustriert. Durch diese Verwirrung entsteht leider der Eindruck, „Die Träume Neapels“ habe eine sehr schwache Erzählstruktur. Die inhaltlichen Doppelungen verleihen dem Film eine Aura der Planlosigkeit. Harte Übergänge von einem Interviewpartner zum nächsten und der häufige Gebrauch von Parallelmontagen verstärken diesen Eindruck zusätzlich. Schade ist auch, dass die Akteure namentlich nur ungenügend vorgestellt werden. So bleiben sie dem Betrachter, trotz einiger Einblicke in ihr Leben, letztlich fremd. Mehr Transparenz bei den Charakteren durch eine Erwähnung der Namen im Untertitel wären den Personen sicher zuträglicher gewesen.
„Die Träume Neapels“ ist eine Dokumentation, die dem Zuschauer die lottovernarrten Neapolitaner nahe bringt. Doch leider wird diese Nähe im Film nur sehr unstrukturiert präsentiert, weswegen oft der Eindruck von Orientierungslosigkeit entsteht. Durch den ästhetischen Schwarz/Weiß-Look und die spannenden Schnitttechniken ist der Film aber trotz alledem interessant. Zusammen mit den Dokumentarfilmen „Il Palio – Das Rennen von Siena“ und „Opernfieber“ bildet „Die Träume Neapels“ eine kleine Filmreihe des Verleihs über Facetten des heutigen Italiens.