Wer Istanbul einen Besuch abstattet und auf buntes sowie quirliges Stadtleben steht, sollte unbedingt Beyoglu ansteuern. Dieses Stadtviertel kann getrost als eines der lebendigsten der Metropole am Bosporus bezeichnet werden, denn hier befindet sich neben vielen Einkaufsmöglichkeiten in Form von schicken Geschäften auch das Herz des pulsierenden Nachtlebens. Jede Menge Clubs, Bars, Kneipen und Restaurants laden zum Essen, Tanzen und Feiern ein. Und wo das Nachtleben tobt, da siedeln sich auch viele Straßenmusiker an. Der Combo „Siya Siyabend“ hat Regisseurin und Produzentin Özay Sahin in dem Dokumentarfilm „Can Baz“ sogar eine Hauptrolle zukommen lassen. Was sich im ersten Moment wie eine Weiterführung von Fatih Akins genialem Dokumentarfilm Crossing The Bridge - The Sound Of Istanbul anhört, entpuppt sich sehr schnell als äußerst experimentelles „Direct Cinema“, das mit willkürlich wirkenden Wackelbildern und keiner Dramaturgie daherkommt. Leider verpasst „Can Baz“ dabei den selbstgestellten Anspruch, das Leben von Istanbuls Straßen auf die Leinwand zu bringen.
Am Anfang scheint noch alles in Butter. Die Straßenmusiker der Band „Siya Siyabend“ haben eine kleine Schar Kinder um sich versammelt, scherzen mit ihnen und fordern sie zum Mitmachen bei der teils improvisierten Jam-Session auf. Der Sound der Band klingt gut, die Texte muten tief und metaphorisch an. Leider ist dies eine der ganz wenigen Hörproben, die man im Verlauf des Films von den Straßenmusikern vernehmen wird. Später thematisiert der Film vielmehr deren Leben abseits der Musik. Da kriegen sich zum Beispiel Sänger und Gitarist aus nicht ganz deutlich werdenden Gründen in die Haare, da führt der Sänger ein minutenlanges Gespräch mit einer Möwe, die zu schwach zum Fliegen ist, aber noch genug Kraft hat, um dem Sänger in seine herausgestreckte Zunge zu picken; in einer Szene wird ein Flugdrache gebaut, in der nächsten – aus ebenfalls nicht ganz offensichtlichen Gründen – mit zwei Männern im Restaurant gestritten. Was will uns der Film damit sagen? Seht her! So sieht das Leben der Bandmitglieder abseits deren Bühnenleben aus. (Fast) unverfälscht, authentisch und in Farbe. Ein Hauch von „Direct Cinema“ liegt in der Luft, der Kinoschule also, die filmt, was vor die Kamera kommt und das Gefilmte hinterher – damit es auch schön echt und nicht gestellt aussieht – unkommentiert zusammenschneidet. Sicher: In den 1960er Jahren war diese Herangehensweise neu, eine Provokation. Heute wird wohl kein ernsthafter Filmemacher mehr behaupten wollen, mit der Kamera objektiv die unverfälschte Realität ungebrochen einfangen zu können. Doch „Can Baz“ mutet in vielen Sequenzen wie ein Versuch dessen an.
Neben den Straßenmusikern hat auch der 15-jährige Hasan eine Hauptrolle in „Can Baz“ abbekommen. Dessen Hauptmerkmale sind seine Schnüffelsucht nach Verdünnungsmittel und sein Analphabetismus. In einer alles andere als behutsam wirkenden Interviewsituation wird der Junge mit Fragen nach seiner Herkunft und seinen Eltern bombardiert, was ihm offensichtlich unangenehmen ist. Zwar erregt das Schweigen des Jungen peinliche Betroffenheit beim Zuschauer, doch viel näher kommt man dem Individuum hinter dem Namen deshalb trotzdem nicht. Weitere Ausflüge zu seinem Schlafplatz, einer Parkbank, und zu einer Wohnung, in der er seinen Schnüffelstoff gelagert hat, sollen verdeutlichen wie Hasans Tag abläuft. All das ruft Mitleid hervor aber auch Wut in der Magengegend, da die gezeigten Zustände nicht erläutert, sondern einfach nur abgelichtet wurden. Gefragt nach den Umständen beim Filmen antwortete die Regisseurin in einem Interview: „Wenn ich zu Hasan sagte, er solle das Schnüffeln mal für zwei Minuten lassen – dann war er verärgert, lief davon und kam erst nach drei Tagen wieder. Die Umstände der Filmaufnahmen waren schwierig.“ Schade, dass dies nicht im Film thematisiert wurde – der Eingriff eines westlichen Filmteams ins Lebens eines Istanbuler Straßenjungen.
Nebenbei werden in Interviewschnipseln die noch immer in der Türkei bestehende Kurdenverfolgung und –vertreibung angesprochen, was dem Film eine Prise politischen Zündstoff verleiht. Unterschiedliche Glaubensrichtungen und Lebensphilosophien werden des öfteren erwähnt; da jedoch auch diese unkommentiert bleiben, setzt der Film an dieser Stelle ein eingeweihtes und wissendes Publikum voraus. So sind beispielsweise die Straßenmusiker der Band „Siya Siyabend“ stark vom Alevitismus beeinflusst. Was das ist? Der Film erklärt es jedenfalls nicht. Wer nicht weiß, was Alevitismus ist, muss bis zum Ende des Films warten, nach Hause gehen, nachschlagen und herausfinden, dass Aleviten einer stark humanistisch geprägte Lebensphilosophie nachgehen, die gelegentlich auch als „der liberale Weg des Islams“ bezeichnet wird.
„Can Baz – Derjenige, der mit seinem Leben spielt“ ist höchst experimentelles und eigenwilliges Doku-Kino, das mit Cinema-Direct-Einflüssen Versuche aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgreift, die darauf aus waren, das Leben objektiv, unmittelbar und authentisch wieder zugeben. Wie in guten Dokumentationen wird die Produktion des Films selbst zum Thema gemacht, was einige wenige spannende Momente erzeugt. Die ganz vereinzelten Jam-Sessions erhellen das Gemüt; ansonsten schleppen sich die 75 Minuten bis zum Ende dahin. Auch wenn der Ansatz löblich ist, etwas anderes auszuprobieren, so geht dieser Schuss doch eher nach hinten los.