In der heutigen Medienwelt sind wir es gewohnt, dass man uns sagt, was wir sehen, und wie wir dies zu deuten haben: Eingebettete Reporter erklären, wie man die verrauschten grün-schwarz gefärbten Bilder vom Krieg zu verstehen hat; Nachrichtensender verwenden zum Teil gleiche Aufnahmen, die mit unterschiedlichen Kommentaren die verschiedensten Sachverhalte klar machen sollen. Die Semi-Dokumentation „Megacities“ des österreichischen Regisseurs Michael Glawogger bedient sich einer radikal anderen Strategie, um vier der größten Städte des globalisierten Raums – Mumbai, Mexiko-Stadt, Moskau und New York – begreifbar zu machen. In Zwölf Geschichten vom Überleben begleitet der Film Einzelschicksale, die Glawogger in den sozialen Randgruppen der jeweiligen Stadtgesellschaft findet. Mit den bewegenden Geschichten und den, mit großem Formwillen gestalteten, ästhetischen Bildern hat „Megacities“ nach seinem Erscheinen 1998 vier Preise bei Internationalen Filmfestivals gewonnen.
Bei zwölf Geschichten aus vier Städten ergeben sich drei Geschichten pro Stadt. Diese werden, in auf den ersten Blick scheinbar willkürlich angeordneter Weise, episodenhaft erzählt. Die ersten beiden Episoden spielen in den Slums von Mumbai (seit 1995 der neue Name für Bombay) und verhandeln verschiedene Möglichkeiten des Geldverdienens – seien dies Kinder, die als Straßenmusikanten für einen kleinen Salaire auftreten oder der Bioskop-Mann, der zusammengenähte Filmstreifen in einem altertümlichen Filmvorführgerät zur Schau anbietet. Die Geschichte, der darauf folgenden kurzen Einspielung aus New York, beginnt eigentlich noch in Mumbai. Bevor man im Big Apple einen Straßenverkäufer dabei beobachtet, wie er bunt gestreifte Hemden für wenig Geld zum Verkauf anbietet, verfolgen wir die Produktion dieser Hemden in einer kleinen Fabrik in Mumbai. Hier wird klar, wie eng die Städte in Zeiten der Globalisierung über wirtschaftliche Wege verwachsen sind. Ohne die Einblendung des Namens der neuen Stadt und der neuen Geschichte hätte man Schwierigkeiten, die Reise von tausenden von Kilometern, die zwischen den beiden Städten liegen, zu realisieren. Ähnlich abrupt wie der Schwenk nach New York geführt hat, führt der Weg dann nach Mexico-City. In einem Flug über das Häusermeer nähert man sich der Stadt an. Dort angekommen, begleitet man schließlich einen Verkäufer von Süßwaren zu denen es als Beigabe ein kleines lebendes Hühnerküken gibt, die ihm von Kindern abgekauft, und zum Spielen mit nach Hause genommen werden. Dem großen Thema Arbeit folgen auch die weiteren Erzählabschnitte. In Mexiko begleiten wir Menschen, die Müll sammeln und diesen wiederverwerten sowie verschiedene Prostituierte bei ihrem Arbeitsalltag. Auch gewöhnliche Fließband- und Fabrikarbeit zählt zu den porträtierten Berufen. Straßendiebe, Kleinverbrecher und Schnorrer vervollständigen das Bild in den Städten Mexico-City, Moskau und New York. Kurz vor Schluss beleuchtet Glawogger noch die sozialen Bedingungen im Milieu der Moskauer Alkoholabhängigen und deren Frauen. In einer nachgestellten New Yorker Radiosendung kommen am Ende noch eine Vielzahl von Randfiguren der Gesellschaft zu Wort und berichten von ihrer persönlichen Einstellung zum Thema „Überleben in der Stadt“. In jeder der zwölf Geschichten tauchen am Rand der Haupterzählstränge kleine dokumentarische Details auf, die das Gesamtbild ausschmücken. Der Abspann wird abermals von Bildern aus Mumbai untermalt und der Film endet somit kreisförmig in der Stadt, mit der er begonnen hat.
Die außergewöhnlichste formale Eigenschaft des Films ist wohl das Weglassen eines zusätzlichen Kommentars. Damit wird „Megacities“ zu einem sehr stillen, sinnlichen Erlebnis. Der fehlende Berichterstatter, wegen dem Glawogger oftmals angegriffen wurde, macht jedoch in der Gesamtkonzeption durchaus Sinn. Der Kamerastandpunkt ist von Anfang an ein explizit menschlicher. Wir sind mitten im Geschehen und, bis auf sehr wenige Ausnahmen, auf gleicher Augenhöhe mit den Akteuren. Daraus resultieren auch die sehr persönlich wirkenden Interviewsituationen, in denen einzelne Stadtbewohner von ihrem Leben und ihren Träumen berichten. Der Eindruck von Nähe und Authentizität wird zudem dadurch erwecket, dass bei der musikalischen Gestaltung fast ausschließlich auf die dokumentarischen O-Töne zurückgegriffen wurde, wie gleich zu Beginn die Melodie eines Musikantenmädchens über mehrere Sequenzen trägt, die räumlich von der Musizierenden getrennt sind. Umso mehr fällt dann die Szene einer russischen Kranführerin heraus, deren Arbeitsalltag von einem Klavierkonzert unterlegt ist und damit einen romantisierenden und theatralischen Touch bekommt.
An dieser Stelle kommt dann spätestens auch der Verdacht auf, dass Betroffenheit absichtlich hervorgerufen werden soll. Beschaut man nun die Blickregie, die Glawogger anwendet, etwas genauer, wird schnell klar, dass hier nichts dem Zufall überlassen wird. Charakteristisch für die meisten Aufnahmen ist ein „touristischer“ Blick: Emblematisch dafür steht die Betrachterposition von sich bewegenden Vehikeln aus – seien dies Zug, Auto oder Pferdekarren. Diesen Blick auf die Welt fremder Länder dürfte jeder kennen, der einmal im Urlaub gewesen ist. Die Identifikation von Kamerastandpunkt mit dem Kinobesucher wird aber an zwei weiteren Stellen noch viel expliziter gemacht: Die allererste Szene des Films, die mit Steadycam aufgenommen wurde, zeigt das Durcheinander des Straßenlebens in Mumbai. Wir selbst sind damit mitten unter den Bewohnern der Stadt und laufen durch die Straßen und sehen uns mal das eine, mal das andere etwas genauer an. In einer weiteren Szene, die in New York spielt, wird diese Technik noch deutlicher – wir schlüpfen in die Rolle desjenigen, der von einem Schnorrer zugetextet wird, um Geld zu bekommen. Dieses Spiel mit den Blicken und Standpunkten ergänzt das Ganze zu einem schlüssigen Bild. Wie schon erwähnt, fehlt ja jeder Kommentar. Indem der Zuschauer selbst in das Geschehen eingebaut wird, kann man auf die Intention Glawoggers schließen, der dazu auffordert, dass jeder für sich selbst einen Kommentar zum Gezeigten machen soll, und sich dazu positioniert.
Um einen oft formulierten Vorwurf der Kritik an Glawogger nicht unerwähnt zu lassen, sei hier auf die Problematik der Ununterscheidbarkeit von Dokumentation und inszenierter Wirklichkeit hingewiesen. An manchen Stellen des Films wird klar, dass die Grenzen des Genres gesprengt werden. Bestimmte Szenen können, wenn überhaupt, rein dokumentarisch nur äußerst schwer festgehalten werden. Dem Trickbetrüger in New York, der einem Kunden eine so genannte „air pussy“ (eine in Wirklichkeit nicht existierende Prostituierte) verkauft, bei seinem Geschäft zu begleiten, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Erstens wird sich wohl kaum einer der Freier offen dazu bekennen, und zweitens würde der Trick des Geschäftes, der darin besteht, dass der Verkäufer sich mit dem bezahlten Geld aus dem Staub macht, nicht aufgehen. Diese Szenen werden wirklichkeitsgetreu nachgestellt. Da die Inszenierung dieser Szenen aber so offensichtlich ist, ist umgekehrt genauso klar, dass der ein oder andere Anstoß daran nimmt, und entweder einen Stilbruch im Genre bemängelt, oder gar alle anderen Szenen im Film ebenfalls in Frage stellt. Eine endgültige Entscheidung für oder gegen eine dieser Positionen wird es nicht geben können. Viel aufschlussreicher dafür ist aber die Erkenntnis, dass es eben tatsächlich sein könnte, dass alle vorkommenden Figuren im Film Schauspieler sind, und die Dokumentation ein Spielfilm ist. Letztlich macht das aber gerade einen unabdinglichen Reiz des Films aus, da nichts gezeigt wird, was nicht im Bereich des Wahrscheinlichen läge. Eine barocke Geisteshaltung liegt dem zu Grunde: Die ganze Welt ist eine Bühne, und jeder spielt seine Rolle. Deshalb gilt umgekehrt, dass eine inszenierte Wirklichkeit den gleichen Wert besitzt wie diese selbst. Ein weiterer österreichischer Regisseur – Ulrich Seidl - der mit Glawogger bereits mehrfach zusammengearbeitet hat („Zur Lage: Österreich in sechs Kapiteln oder Mit Verlusten ist zu rechnen“) bedient sich ebenfalls diesem zum Stilmittel erhobenen Element der Wirklichkeit.
Wer gerne mehr zu den Städten Mumbai, Mexiko-Stadt, Moskau und New York erfahren möchte, oder nützliche Informationen zu diesen erwartet, wird von „Megacities“ enttäuscht werden. Es geht hier vielmehr darum, dass die Wahrnehmung eines bestimmten Phänomens, wie hier einer Megacity im globalen Zusammenhang, als etwas anderes darzustellen als nur in abstrakten Zahlen und Fakten. Es soll vielmehr direkt erfahrbar werden, und das geschieht in erster Linie dadurch, dass Geschichten erzählt werden. Mit „Megacities“ will Michael Glawogger den Zuschauer betroffen machen und berühren; ihn auffordern, sich zur Welt zu positionieren. Die ästhetische Form, die er wählt, ist ein Kontrapunkt zum Inhalt des Films. Eine Qualität besteht aber genau darin: Die Schönheit dort zu finden, wo sie im Regelfall nicht gesucht wird.