Mein Konto
    Gambit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Gambit
    Von Christoph Petersen

    Nach dem 10. Juli 1976 wurden die Nachrichten in ganz Europa für mehrere Wochen von jener Umweltkatastrophe im norditalienischen Dorf Seveso bestimmt, die bei zahlreichen Kindern schlimme Hauterkrankungen hervorrief, mehreren hundert Evakuierten ihr Zuhause und etwa 70.000 Tieren das Leben kostete. In der Fabrik Icmesa war ein Kessel explodiert, wodurch in hohem Maße giftiges Dioxin freigesetzt wurde. Die Mutterfirma Givaudan, Teil des Weltkonzerns Hoffman-La Roche, wusste nach spätestens zwei Tagen über die möglichen Folgen des Unfalls bescheid, ließ die italienischen Behörden aber dennoch weiter im Unklaren, um die eigene Weste möglichst weiß zu belassen. Regisseurin Sabine Gisiger nähert sich nun mit ihrem Dokumentarfilm „Gambit“ diesem Ereignis an, indem sie die Geschichte anhand der Aussagen des damals leitenden Technikers Jörg Sambeth, der mittlerweile mit „Zwischenfall in Seveso“ auch einen eigenen Tatsachenroman zu dem Thema veröffentlicht hat, aufrollt. So gut ihr das Hinterfragen von Unternehmensmoral und Wirtschaftssystem dabei aber auch gelingen mag, so sehr fehlt ihr dabei ausgerechnet zu ihrer Hauptfigur Sambeth jede notwendige kritische Distanz.

    Gambit: eine Eröffnung beim Schachspiel, bei der ein Bauer für eine meist taktische, manchmal auch strategische Kompensation dem Gegner überlassen wird. Nachdem die Ausmaße der Katastrophe offen auf dem Tisch lagen, kam Hoffman-La Roche in große Erklärungsnot. Warum hatte man die offensichtlich notwendigen Investitionen in die heruntergekommene Fabrik nicht getätigt und warum wurden die zuständigen Behörden nicht zeitnaher über den Dioxin-Austritt informiert. Schon bald wurde Anklage gegen verschiedene Manager und den technisch verantwortlichen Jörg Sambeth erhoben. Dabei war es doch Sambeth, der zumindest in Ansätzen das Richtige getan hatte: Er hatte zwölf Millionen Euro beantragt, um die Icmesa zu sanieren. Er hatte nach dem Unfall die Dioxin-Messungen eingefordert. Und er hatte den Ärzten der umliegenden Krankenhäuser (mit vier Tagen Verspätung!) trotz Redeverbot die Ursache der vielen Erkrankungen mitgeteilt. Zunächst fuhren die La-Roche-Anwälte noch eine einheitliche Verteidigungsstrategie, doch irgendwann war klar, dass die Unternehmensleitung entschieden hatte, einige Sambeth entlastende, aber die Firma belastende Papiere zurückzuhalten, und Sambeth so der Staatsanwaltschaft als alleiniges Bauernopfer vorzusetzen…

    „Der Blick hinter die Kulissen eines multinationalen Großkonzerns erschütterte mich.“ (Sabine Gisiger) Umso höher ist zu bewerten, dass sie komplett darauf verzichtet, das Einprügeln auf die Verantwortlichen noch durch ihre Art der Inszenierung künstlich zu verstärken. Vielmehr lässt sie ihre Bilder und die Aussagen der La-Roche-Manager meist für sich alleine stehen und zeigt so eine Möglichkeit auf, entlarvende Wirtschaftskritik auch abseits der bissigen Ironie eines Michael Moore zu präsentieren – zwar weniger emotional, aber mindestens genauso treffend. Und wenn Gisiger in den letzten zwanzig Minuten doch noch mal ein wenig von Sambeths Erklärungen abdriftet und der ARD-Fernsehjournalist Ekkehard Sieker mit seinen wunderbaren Hardcore-Verschwörungstheorien, die selbst die heimliche Herstellung von waffenfähigem Dioxin beinhalten, zu Wort kommt, wird es sogar noch einmal richtig aufregend. Leider scheint Gisiger diese gelungenen Teile ihrer Dokumentation im Laufe der Vorbereitungen für den Film immer weniger interessant gefunden zu haben, nehmen sie doch im Vergleich zu Sambeths persönlicher Geschichte einen viel zu kleinen Raum ein.

    Gisiger bezeichnet den fünf Akte umfassenden Aufbau von „Gambit“ als „Die Reise des Helden im klassischen Sinne“. Hier wird besonders deutlich, wie sehr sie die wochenlangen Gespräche mit Sambeth beeindruckt haben, wie sehr sie seine Rolle als heldenhaft rebellierendes Bauernopfer verinnerlicht hat. Natürlich kann man Sambeths Verhalten menschlich absolut nachvollziehen - aber jemanden, der trotz besseren Wissens lange Zeit stillhält und sich erst wie ein wütendes Rumpelstilzchen gegen seinen Konzern wendet, als es um den eigenen Ruf geht, ohne jede kritische Note als Held der Geschichte zu präsentieren, verfehlt die Aufgabe eines Films über die Katastrophe von Seveso komplett. Hierzu passt auch, dass „Gambit“ immer dann, wenn es um Sambeths persönliches Schicksal geht, im Gegensatz zur sonstigen Stimmung übertrieben melodramatische Töne anschlägt. So ist „Gambit“ – zumindest was die Figur Sambeth angeht - im Endeffekt eher eine Huldigung denn eine Aufarbeitung, bei der die gelungen-investigativen Augenblicke zu sehr im Hintergrund verschwinden.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top