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    Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen
    Von Christoph Petersen

    Das Dokumentarfilm-Genre ist nicht gerade für seine innovativen Ideen berüchtigt. Die einzigen Neuerungen in den letzten Jahren waren kritische Fun-Dokus (Bowling For Columbine, Super Size Me) und immer aufwendigere Naturaufnahmen (Deep Blue, Nomaden der Lüfte). Nun hat mit Gerhard Friedl endlich mal ein Regisseur wirklichen Mut bewiesen und mit seinem preisgekrönten Film „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ (u.a. Deutscher Kurzfilmpreis 2005, ARTE-Dokumentarfilmpreis 2004) komplett unbekanntes Terrain betreten. Über die Laufzeit von 73 Minuten werden die verschiedensten Fakten der deutschen Wirtschaftsgeschichte der letzten 80 Jahre nur lose zusammenhängend von einem monotonen Sprecher eingestreut und mit mal mehr, mal weniger passenden Bildern, die aber nie wirklich das Gesagte wiederspiegeln, unterlegt.

    Diese alle Sehgewohnheiten brechende Trennung von Bildern und Kommentar führt zu sehr interessanten Ergebnissen. Weil der Zuschauer es einfach gewöhnt ist, das Gesehene und das Gehörte miteinander in Bezug zu setzen, kann er sich diesem Reflex auch bei diesem Film nicht erwehren. So ergeben sich manchmal recht stimmige, aber oft auch total abstruse Assoziationen, die den kühlen Blick auf die Wirtschaftshistorie zu einem aufregenden Abenteuer werden lassen. So sind die ersten Sätze des Films "Alfons Müller-Wipperfürth ist Textilindustrieller. … Nach Dienstschluss kommt er in die Verkaufsräume. Ist er unzufrieden, hinterlässt er eine Visitenkarte. … Müller-Wipperfürth trennt die Nähte der Kostüme seiner dritten Frau auf. Er zeigt ihr, wie schlecht die Ware gemacht ist. Die Frau verliert jede Freude an ihrer Kleidung und trägt Lederkostüme." unter anderem mit Bildern einer grünenden Wiese, einer Baustelle, einem Militärflugplatz, einer Näherei (die als einziges Objekt wirklich zum Thema passt), einem Kornfeld und einer hektischen Kreuzung unterlegt. Zunächst wirkt dieser experimentelle Ansatz natürlich befremdlich, aber schon relativ bald bekommen die Gedankenspiele im eigenen Kopf eine fast hypnotische Wirkung, die den Zuschauer vollkommen in ihren Bann zieht.

    Die Aneinanderreihung der jeweils nur aus einem Satz bestehenden Informationen erinnert stark an eine Art Brainstorming, jeder Satz steht nur im losen Zusammenhang zu dem vorherigen. So bekommt der Zuschauer, auch wenn die komplexen Netzwerke der Wirtschaft weiter undurchschaubar bleiben, zumindest einen Eindruck davon, wie alles irgendwie zusammenhängt. Ist der Film mit der Karriere eines Magnaten durch, macht er mit dessen Finanzier, Gläubiger, Vater, Sohn, Bruder oder Konkurrenten weiter. Die Qualität der Informationen reicht dabei von einfachen Unternehmenszahlen wie Aktienkursen über Pulp Facts á la „Bunte“ oder anderen Illustrierten bis hin zur Aufdeckung von kriminellen Machenschaften. So erfährt man über einen Unternehmer ob er ein Hörgerät tragen musste oder ob Verwandte von ihm bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind genauso wie seine Verwicklungen in Betrugs-, Konkurs- oder Bestechungsskandale.

    Thematisch schlängelt sich „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ in alle Winkel und Ecken des deutschen Großkapitals des 20. Jahrhunderts. So wird den Geschichten von mächtigen, aber in der Öffentlichkeit eher unbekannten Unternehmer-Clans genauso viel Platz eingeräumt, wie dem publikumswirksamen Bestechungsskandal der FDP oder uns alltäglich begegnenden Industriellen-Namen wie Oetker oder Thyssen. Aber war uns wirklich bewusst, dass Oetker mit einem Buch über Backen das nach der Bibel und dem ADAC-Atlas dritthöchst aufgelegte Buch der BRD rausgebracht hat oder dass die Todesanzeige eines Thyssen-Bruders auf das Nötigste gekürzt werden musste, weil keine Firmen-Interna in die Öffentlichkeit dringen sollten. Natürlich sind diese Fakten von untergeordneter Bedeutung, wenn es um das Verstehen der deutschen Wirtschaft geht, aber gerade diese ungewichtete Mischung aus Wichtigem, Unwichtigem, Trockenem und Spaßigen macht einen Großteil der Faszination des Films aus.

    Genauso wie der Film einfach irgendwo anfängt, hört er auch einfach irgendwo wieder auf. Friedl will mit seiner Dokumentation weder einen Ausschnitt, noch einen Überblick oder einen Querschnitt der Wirtschaft liefern. Vielmehr geht es ihm um die Beschreibung eines nicht einzuordnenden Gefühls, mit dem die meisten Menschen dem undurchschaubaren Koloss Wirtschaft gegenüberstehen. Und dass schafft er mit seiner experimentellen Erzählstruktur, die ähnlich undurchschaubar ist, auf kongeniale Art und Weise. Auch wenn die 73 Minuten von „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ schon das Äußerste sind, wird das Zusehen doch wegen all der neuen Eindrücke und Gedanken auf Dauer auch anstrengend, ist Friedl mit seinem Projekt ein innovativer, aufregender und spannender Film gelungen, der anderen Dokumentarfilmern hoffentlich genug Mut macht, um auch mal etwas Neues auszuprobieren.

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