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    Tage oder Stunden
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tage oder Stunden
    Von Sascha Westphal

    Kurz bevor der Abspann von Jean Beckers „Tage oder Stunden“ beginnt, setzt ein Chanson ein. Serge Reggiani singt mit einer erschütternden Intensität „Le Temps Qui Reste“. Dieses Lied und diese Stimme sind weit mehr als nur eine musikalische Untermalung der Schlusstitel. Sie sind der emotionale Kulminationspunkt, auf den alles in diesem sich unentwegt zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen erlösenden Aufbrüchen und endgültigem Stillstand hin und her bewegenden Familiendrama unausweichlich zuläuft. „Die Zeit, die bleibt“ – auch das wäre ein passender Titel für Beckers heitere Tragödie eines viel zu ehrlichen Lügners. Nur stellt sich die Frage, ob viele Kinobesucher überhaupt die Chance haben werden, sich in diesem Moment der Musik und den in ihr zum Ausbruch kommenden Gefühlen ganz hinzugeben. In einer Zeit, in der in vielen Kinosälen sofort das Licht angeht, wenn die ersten Credits auf der Leinwand erscheinen, und ein Großteil des Publikums seine Sachen zusammensammelt und aufsteht, ist ein solcher Musikeinsatz ein Wagnis. Wie leicht kann er einfach verpuffen. Doch Becker (Dialog mit meinem Gärtner) beharrt darauf, dass alles in einem Film Bedeutung hat, selbst der Abspann, und ein Chanson mehr sagen kann als tausend Bilder. Das ist natürlich im höchsten Maße anachronistisch, aber eben auch ein Bekenntnis zu einem Kino, das mehr ist als nur ein Zeitvertreib unter vielen, dem das Publikum mit Respekt und einer besonderen Aufmerksamkeit begegnen sollte.

    Der 42-jährige Antoine Méliot (Albert Dupontel) führt genau das Leben, das Filme und Zeitschriften, Fernsehen und Werbung gerne zum Ideal erklären. Als Mitinhaber einer erfolgreichen Pariser Werbeagentur hat er selbst seinen Teil dazu beigetragen, dass nun alle glauben, sein Leben sei ein Traum. Doch irgendetwas stimmt nicht mehr. Sein Job geht Antoine nur noch auf die Nerven. Selbst das viele Geld, das er verdient, kann ihn nicht mehr versöhnen. Zudem scheint ihn auch nichts mehr mit seiner Familie, seiner wundervollen Frau Cécile (Marie-Josée Croze) und seinen beiden reizenden Kindern, zu verbinden. Von den Gefühlen, die er einmal sie für hatte, ist nicht mehr viel übriggeblieben. Dieser Eindruck drängt sich zumindest Cécile auf: Wie könnte er sonst so seltsam gleichgültig auf ihren Vorwurf reagieren, er habe eine Affäre mit einer anderen? Und so ruiniert Antoine schließlich an einem einzigen Wochenende, was er sich zuvor über Jahre hinweg aufgebaut hat…

    Ehrlichkeit gilt gemeinhin als eine große Tugend. Wenn jemand in der Öffentlichkeit gelobt oder gar ausgezeichnet wird, heißt es oft, dass er ehrlich ist und den Mut hat, auch unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Doch wie steht es eigentlich tatsächlich mit der Ehrlichkeit in unserer Welt, also jenseits von Sonntagsreden und jenseits von politischen Predigten? Es hat schon seinen Grund, dass früher, zu Zeiten des Adels und der Könige, nur die Narren die Wahrheit aussprechen durften. Schließlich wird kaum jemand gerne mit seinen Fehlern und Schwächen konfrontiert. Also muss nicht immer gleich jede Wahrheit auch gesagt werden. Aus Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer und aus ganz praktischen Erwägungen heraus – schließlich kann ein unnachgiebiges Beharren auf Ehrlichkeit viel mehr Probleme schaffen als lösen – hat die Gesellschaft ein unausgesprochenes Abkommen getroffen, das streng trennt zwischen Ehrlichkeit als abstrakter Größe und dem täglichen Umgang mit ihr. So funktioniert Zivilisation nun einmal. Und vielleicht ist das auch gut so.

    Jean Becker lässt Antoine in der ersten Hälfte von „Tage oder Stunden“ dieses gesellschaftliche Abkommen konsequent brechen. Als Amokläufer der Wahrheit stößt er seine Familie und seine Freunde, Geschäftskunden und Kollegen gleichermaßen vor den Kopf. Niemand ist sicher vor seiner grenzenlosen und damit unglaublich brutalen Ehrlichkeit. Natürlich hat Antoine vollkommen Recht, wenn er die unsägliche Verlogenheit der Werbung genauso wie die absurde Unentschlossenheit eines Großkunden offen bloßstellt. Und wenn er all seinen gutsituierten Freunden vorwirft, dass sie sich mit ihren linksliberalen Bekenntnissen und ihren schönen Idealen, die sie wie Banner vor sich hertragen, nur selbst belügen, trifft er den Nagel auf den Kopf. Doch sollte ein Vater die selbstgemalten Bilder, die ihm seine Kinder zum Geburtstag schenken, wirklich verbal zerreißen? Alles, was er zu seinem Sohn und seiner Tochter sagt, ist wahr. Aber was außer Tränen bringt eine solche Ehrlichkeit?

    Jean Becker und Albert Dupontel (Irreversible, So ist Paris) haben sichtlich Spaß an Antoines politisch ziemlich unkorrekter Wahrheitsliebe. Gerade in den Szenen mit seinen Kunden und seinen Freunden lassen sie ihrer zugegebenermaßen ziemlich destruktiven Lust an der Demaskierung einer Gesellschaft, die es sich in ihren (Lebens-)Lügen bequem gemacht hat, freien Lauf. Dupontel dabei zuzusehen, wie er sich immer weiter in diesen Ehrlichkeitsfuror hineinsteigert, ist ein wahres Vergnügen, aber eines, das sich sehr schnell trübt. Schließlich schwingt in seinen großen Auftritten auch etwas Krankhaftes mit. Antoine mag auf dem richtigen Weg sein, aber er verliert das rechte Maß – und daran lässt Dupontel nicht den geringsten Zweifel aufkommen. Hinter dieser so aggressiv zur Schau gestellten Liebe zur Wahrheit verbirgt sich etwas ganz anderes.

    So plötzlich wie Antoine sich verändert – sein aggressives Verhalten kommt für seine Familie und seine Freunde praktisch aus dem Nichts –, so plötzlich wechselt auch Jean Becker den Ton seines Films. Nach dem Wochenende, an dem der Geschäftsmann und Familienvater sein bisheriges Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hat, beginnt ein Road Movie. Zu Hause gibt es für Antoine keine Zukunft, also macht er sich auf einen Weg, der ihn nicht nur von Frankreich nach Irland sondern auch in seine eigene Vergangenheit führt. An die Stelle der unbarmherzigen Härte, die letztlich eher untypisch für einen Jean-Becker-Film ist, die sonst eher im Schein einer leichten, liebevollen Melancholie erstrahlen, tritt in dieser zweiten Hälfte eine Sehnsucht nach Verständnis. Wie ein Gewitter, das die Luft klärt, hat Antoines Wüten etwas Befreiendes. Danach kann noch einmal etwas Neues anfangen.

    Es gehört eine ganz schöne Portion Mut dazu, einen Film so klar in zwei Hälften zu trennen. Am Ende fügt sich zwar alles zusammen. Zunächst provoziert diese Struktur allerdings vor allem Ratlosigkeit. Die satirische Schärfe des Beginns hat zwar auch eine zutiefst berührende tragische Komponente, trotzdem scheint sie erst einmal in einem Widerspruch zu der Wendung ins Melodramatische zu stehen, die Antoines Geschichte schließlich nimmt. Am Ende ist es dann vor allem Albert Dupontel, der seinen Regisseur vor dem Scheitern bewahrt. Er verkörpert die beiden Seiten seines Charakters derart glaubwürdig, dass schließlich auch die beiden Teile des Films ganz mühelos eins werden. Und wenn sich dann Serge Reggianis ergreifende Stimme erhebt und „Le Temps Qui Reste“ erklingt, lösen sich endgültig alle inneren Widersprüche und Gegensätze des Films auf: Das Leben ist eben nicht ordentlich, und deshalb sollte es auch die Kunst nicht sein.

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