Wenn David Lynch eine politisch engagierte Feministin wäre, dann würde er wohl Filme wie „Caótica Ana“ drehen. Dass der Zuschauer nun trotzdem in den Genuss kommt, einen derartigen Film zu bestaunen, hat er dem Spanier Julio Medem („Lucia und der Sex“, „Die Liebenden des Polarkreises“) zu verdanken. Der ist zwar auch keine Frau, erzählt seine überraschende Geschichte aber dennoch mit einem wunderbaren, dem Weiblichen huldigenden Blick.
Ana (Manuela Vellés) lebt mit ihrem Vater Klaus (Matthias Habich) in einer Höhle am Strand von Ibiza. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich mit dem Verkauf von selbstgemalten Bildern auf dem örtlichen Kunstmarkt. Für die junge Frau ändert sich jedoch alles, als die Kunstmäzenin Justine (Charlotte Rampling) auf ihr Talent aufmerksam wird und sie nach Madrid einlädt. Dort, in einer Künstlerkolonie, lernt Ana nicht nur andere Kunstbegeisterte kennen, sondern stößt auch eine Tür in ihr Innerstes auf…
„Faszinierend“ ist wohl das Wort, das den meisten Zuschauern bei diesem Film in den Sinn kommt. Julio Medems neues Werk ist unerklärlich, magisch, erotisch und – wenn mitunter etwas dick aufgetragen – ziemlich clever. „Caótica Ana“ beginnt mit einer Taube (weiblich), die von einem Falken (männlich) attackiert wird. Das „Männliche“ und das „Weibliche“ ziehen sich ab dieser Szene wie ein roter Faden durch den metaphernreichen Film, der wie bei einer Hypnose von 10 bis 0 runtergezählt und in Kapiteln erzählt wird.
Worum es eigentlich geht, bleibt dem Zuschauer lange verborgen. Er beobachtet Ana zunächst dabei, wie sie sich in der Künstlerkolonie in Madrid einrichtet, ihr Talent weiter ausbaut und in Linda (Bebe Rebolledo) eine gute Freundin findet. Ein Film über die Kunst? Zum Teil. Eher über die Schaffenskraft. Unter den Künstlern ist ein Mann, der eine sonderbare Anziehungskraft auf die junge Frau ausübt. Es ist fast, als wäre Ana mit Said (Nicolas Cazalé) auf rätselhafte Weise verbunden. Ein Romantikdrama? Auch diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, wobei die Liebe sicherlich eine bedeutende Rolle spielt. Allerdings schleicht sich an dieser Stelle ein weiterer, völlig unerwarteter Themenstrang in den Film. Als Said spurlos verschwindet, lässt sich Ana hypnotisieren. Es scheint, als habe sie in den vergangenen 2.000 Jahren schon mehrfach gelebt. Unter Trance spricht Ana ihr fremde Sprachen und erinnert sich an Dinge, die sie gar nicht wissen kann. Auch wenn es einen Moment lang so wirken mag, mutiert „Caótica Ana“ nicht zum Mysterythriller, sondern lässt sich auch im weiteren Verlauf nur schwer fassen.
Sicher ist es nicht jedermanns Sache, den Künstlerkitsch, die esoterischen Kapriolen und die deutliche Sexualsymbolik mitzumachen. „Männer sind Vergewaltiger und Frauen Nutten.“ Auch wer sich diesem Topos grundsätzlich verweigert, wird seine Probleme mit dem Film haben. Doch Medem inszeniert stark. So stark, stilsicher und gewitzt, dass er dem Zuschauer sogar die überschwänglichen Momente, die von der Musik noch einmal überhöht werden, als „so und nicht anders“ verkauft.
Eine wichtige Rolle kommt auch den Schauspielern zu, allen voran Newcomerin Manuela Vellés. Ohne ihr ausgewogenes Spiel zwischen Natürlichkeit und Überhöhung hätte der Film, der genauso in der realen Welt wie im Innenleben seiner Protagonistin verhaftet ist, nicht funktioniert. Ana hat schon die Leben vieler Frauen gelebt, aber auch in ihrer derzeitigen Existenz reiht sich Leben an Leben: Ob Unschuld vom Lande, Verführerin, Retterin, Femme Fatale oder gar archetypisches Prinzip der Weiblichkeit – Vellés meistert ihre Rolle(n) perfekt. Verglichen mit ihr sind die anderen Frauen - selbst Charlotte Rampling (Die Hausschlüssel, Swimming Pool) - fast unscheinbar. Ein paar starke Männer gibt es auch: Nicolas Cazalé (Saint Jacques... Pilgern auf Französisch) guckt so traurig und Matthias Habich (Nirgendwo in Afrika) so väterlich, dass einem ganz warm ums Herz wird.
Der Vergleich mit David Lynch (Mulholland Drive, Lost Highway), der es so wunderbar versteht, (alb)traumhafte Wirklichkeiten aus der Psyche seiner Protagonisten zu konstruieren, ist nicht aus der Luft gegriffen. Auch „Caótica Ana“ treibt, auch wenn eine völlig andere Stimmung als in den Lynch-Filmen vorherrscht, eine bildgewaltige, symbol- und metaphernreiche Traumlogik an. Bei Medem sind allerdings das Weibliche und das Männliche die Ausrichtungspole der Geschichte. 10 – 9 – 8 – 7… der absolute Nullpunkt, der gleichzeitig wieder ein Anfang ist, schließt dem Zuschauer eine neue Tür des Verständnisses auf und präsentiert gleichzeitig spitzbübisch seine Pointe. Da möchte man „Caótica Ana“ am liebsten gleich nochmal ansehen.
Fazit: Julio Medems außergewöhnlicher Film „Caótica Ana“ ist eine stimmungsvolle, metaphysische Reise, die sich rationalen Erklärungsversuchen entzieht. Wenn an deren überraschendem Ende die psychologische Dimension um eine gesellschaftspolitische erweitert wird, kommt zumindest eine Ahnung auf, worum es dem Regisseur ging.