Mein Konto
    Der freie Wille
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Der freie Wille
    Von Andreas R. Becker

    „We must believe in free will, we have no choice.”

    - Isaac Bashevis Singer, amerikanischer Schriftsteller

    Auch wenn Matthias Glasners knapp dreistündiges Drama über den Vergewaltiger Theo (Jürgen Vogel, Nackt) nach seinen eigenen Worten ein Film über Individuen ist, zeigt bereits der Titel an, dass die Behandlung dieses gesellschaftlich hoch prekären Themas einige tief greifende, allgemeine Fragen über die menschliche Existenz aufwirft.

    Es beginnt mit einer Vergewaltigungsszene, die in ihrer Explizität, Dauer und Grausamkeit einem Noeschen Irréversible in nichts nachsteht und dem Zuschauer die Unmenschlichkeit dieses schlimmsten Verbrechens ganz nah und in all ihrer emotionalen Härte aufzwingt. Kurze Zeit später wird Theo gefasst. Schnitt. Eine psychiatrische Anstalt. Einsamkeit, Sterilität. Schnitt. Fast ein Jahrzehnt Therapie, so erfahren wir, hat Theo inzwischen hinter sich gebracht und wird unter Vorbehalt in eine Wohngemeinschaft aus Ex-Häftlingen in Mülheim an der Ruhr entlassen. Erfüllt von Reue und dem spürbar ernsthaften Willen, es gut zu machen, besser zu machen und ein Vorbild zu sein, gelingt es ihm, einen Job in einer Druckerei zu finden. Kurze Zeit später lernt er die psychisch ebenfalls angeschlagene 27-jährige Tochter seines Arbeitgebers Nettie, (Sabine Timoteo), kennen und es entbrennt eine Liebe zwischen den beiden, die irgendwann sogar das Bild einer ganz „normalen“ Beziehung abgibt.

    Mit großer Ruhe und Geduld und einer zurückgenommenen Kamera, die ohne große Bewegung ganz dicht an den Akteuren operiert, wird ein authentischer Alltag dokumentiert, in dem wir Theo dabei zusehen, wie er arbeitet, einkaufen geht, Kampfsport betreibt, sich Pornos anschaut und dabei onaniert. Ein Alltag, in dem wir mit einem mulmigen Gefühl das Verhältnis von Nettie und ihrem Vater beobachten, in dem

    ohne es uns zu zeigen mitschwingt, dass die Grenzen zwischen väterlicher Zuneigung und sexuellem Missbrauch fließend verlaufen und latente sexuelle Gewalt überall anzufinden ist. Ein Alltag, in dem wir sehen, wie schließlich Theo und Nettie nach Umwegen trotz ihrer kommunikativen Hemmungen und Blessuren zueinander finden und versuchen, ein gemeinsames Leben zu führen.

    Doch bereits von Anfang an erzeugt Glasner auf subtile Weise durch kommentarlos zwischengeschnittene Szenen auf der Straße, im Bus oder ein symbolisch herabhängendes Poster, das sich auch nach dem Andrücken an die Wand wieder ablöst, eine Stimmung, die eine Vorahnung davon heraufbeschwört, dass das alles nicht gut gehen kann. In einer sexualisierten Umgebung, in der eine Werbung und Mode dominiert, die mit knappen Tops, kurzen Röcken und tiefen Einblicken eine unausweichliche Reizüberflutung ausschüttet und einen Teufelskreis aus männlichen Annäherungsversuchen und weiblicher Abweisung evoziert, wird Theos freier Wille an die äußersten Grenzen getrieben und diesen Kampf gegen ein Freudsches Es in seinem Innersten kann man an seinem Gesicht und seinem ganzen Körper ablesen. Es kommt, wie es kommen muss. Theo wird rückfällig und seine angestrengte Illusion von einem geheilten Leben zerbricht - und mit ihr die Beziehung mit Nettie. Auf der Suche nach Erlösung, die als religiöses Motiv bereits in einer ergreifenden Kirchenszene auftritt, in der Theo und Nettie zueinander finden, sieht er schlussendlich nur eine einzige Möglichkeit, die in einer Endszene kulminiert, die in ihrer Härte und

    Verzweiflung ihresgleichen sucht.

    „Der freie Wille“ ist nicht nur angesichts des behutsam bearbeiteten, mehr als schwierigen Themas ein phantastisches Ereignis aktueller deutscher Filmkunst. Gründlich recherchiert und dennoch nicht orientiert an pathologischen Biographien, entwickelt ein überragender Jürgen Vogel an der Seite seiner ebenso brillanten Partnerin Sabine Timoteo das komplexe Bild eines Sexualstraftäters, der in seinem erbitterten Versuch, ein humaner Mensch zu sein, die Sympathien eines ebenso innerlich zerrissenen Zuschauers auf sich zieht. Und wenn wir trotz besseren Wissens ein „Bitte, bitte tu es nicht!“ im Hinterkopf hören und uns mit Theo die Erlösung wünschen, steigt die Spannung noch an, weil wir von uns selbst überrascht sind.

    Theo stirbt, und der Regisseur liefert in keinem Punkt eine Rechtfertigung für seine Taten. Mit der gezielten Aussparung von Theos biographischem Hintergrund vermeidet er auch eine Psychologisierung und warnte auch die Öffentlichkeit vor solchen verallgemeinernden Rückschlüssen auf „den“ Sexualverbrecher. Dennoch: Ob damit die Frage, inwieweit Menschen für ihre eigenen Taten generell verantwortlich gemacht werden können, nur gestellt oder nicht auch implizit beantwortet wird, ist sicher streitbar. Ob unser freier Wille Grenzen hat, wohl eher nicht.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top