„Wer kennt das nicht, auf einmal ist man gezwungen Bilanz zu ziehen. Und man legt die Träume und Werte der Vergangenheit in die Waagschale des gelebten Lebens.“ So beschreibt der Kameramann Florian Hoffmeister das Thema seines Regie- und Drehbuchdebüts „3 Grad kälter“. Anhand von drei befreundeten Paaren exerziert er die fällige Entscheidung zwischen dem Ausbruch aus der Alltäglichkeit und dem bewahren der gesicherten Existenz. Dabei verzichtet er fast vollständig auf offensichtliche Gefühle. Egal, ob es um eine Kleinigkeit oder das restliche Leben geht, jede Emotion erhält nur genau einen einzigen Augenblick. Die Differenzierung, die sooft dem letzten Kuss genauso viel Platz einräumt wie dem restlichen Film, fehlt völlig. Das Ergebnis ist ein kleiner Schatz, der irgendwo zwischen den Werken von Oskar Roehler (Agnes und seine Brüder) und Angela Schanelec („Marseille“) liegt, aber auch eine ganz eigene Handschrift durchscheinen lässt.
Jan (Sebastian Blomberg, Alles auf Zucker, Anatomie) ist ohne jede Begründung aus seinem gutbürgerlichen Leben geflohen. Seine Freundin Marie (Bibiana Beglau, Kammerflimmern, Der neunte Tag) macht sich mit den gemeinsamen Freunden Frank (Johann von Bülow, „Jazz-Club“) und Steini (Alexander Beyer, Good Bye, Lenin! , Sonnenallee) auf die Suche. In Spanien erblickt Frank Jan in der Ferne einsam am Strand stehen. Doch er erzählt den anderen nichts, heimlich ist er nämlich in Marie verliebt und lässt sich für einen Augenblick von diesem Gefühl überwältigen. Wieder zurück in Deutschland kommen Frank und Marie tatsächlich zusammen. Fünf Jahre vergehen, in denen die Freunde all ihre Sehnsüchte und Hoffnungen auf Jan projizieren.
Als Jan eines Tages einfach wieder auftaucht, schlägt er im Leben der anderen ein wie eine Bombe. Am stärksten betroffen ist natürlich die Beziehung zwischen Marie und Frank. Marie steht ihrer verloren gegangenen großen Liebe gegenüber und hat eine schwere Entscheidung zu fällen. Frank pendelt zwischen seinen Gefühlen für Marie und seinem schlechten Gewissen. Aber auch zwei andere Paare werden von Jans Rückkehr beeinflusst. Sein Bruder Olli (Florian David Fitz, Mädchen Mädchen 2) ist gerade mit der Cellistin Babette (Katharina Schüttler, Mädchen am Sonntag, Die innere Sicherheit) zusammengekommen. Aber schon bald wird ihre Anstellung zu Ende sein, Olli könnt es seinem Bruder gleichtun, die Brücken abbrechen und ihr mutig folgen. Jans Freund Steini ist mittlerweile Vater geworden. Seine Frau Jenny (Meret Becker, Polly Blue Eyes) betrügt er aber trotzdem regelmäßig. Beide scheinen in der Ehe gefangen zu sein, aber ein Ausbruch will nicht gelingen. Das Jenny gerade zum zweiten Mal schwanger geworden ist, vereinfacht die Sache nicht unbedingt.
Im Vorspann des Films wird die Suche der Freunde nach Jan im herbstlichen Spanien angedeutet. Diese Sequenz ist so künstlich, so sehr Kunstgewerbe, dass man erst einmal große Angst vor 104 Minuten Langeweile bekommt. Aber schon die erste Szene nach der Einblendung „5 Jahre später“, in der Steini und Jenny in ihre neue Wohnung ziehen, lässt den Zuschauer wieder beruhigt in seinen Sessel zurückgleiten. Die Präzision, mit der Regisseur Hoffmeister eine Unzahl an Beziehungen in einer kurzen Zeit charakterisiert, und die Leichtigkeit, mit der er tiefe Gefühle und lakonischen Humor zusammenbringt, sind einfach erfrischend. Unterstützt wird er dabei von einem der besten Schauspieler-Ensembles der jüngeren deutschen Kinovergangenheit. Egal, ob Sebastian Blomberg als mutiger Ausreißer Jan, der in Wirklichkeit zu feige war, sein Leben durchzuziehen. Bibiana Beglau als verlassene Marie, die am Schluss klarer sieht als alle anderen. Katharina Schüttler als die lebensfrohe, aber auch ängstliche Künstlerin Babette. Oder alle anderen Mitglieder der Darstellerriege. Sie alle liefern trotz, oder gerade wegen der Unerfahrenheit des Regisseurs eine großartige Leistung ab. Hoffmeister konnte sich also auf seine Darsteller verlassen und dass ist scheinbar vor allem der visuellen Ausgestaltung des Films zugute gekommen. Für ein Drama besitzt „3 Grad kälter“ nämlich eine unglaubliche filmische Eleganz, die er wohl auch den Erfahrungen Hoffmeisters als Kameramann für solche Regisseure wie Antonia Bird („Hamburg Cell“) oder Hannes Stöhr (Berlin Is In Germany) zu verdanken hat.
„3 Grad kälter“ ist ein bei Publikum und Kritikern umstrittener Film. Die einen hassen ihn, die anderen finden ihn sehr gut. Bei der Uraufführung wurde er ausgebuht, in Locarno hat er von der Jury den Silbernen Leoparden bekommen. Die einen beklagen sich darüber, dass das Drehbuch zu viele Lücken hat. Die anderen meinen, der Film lasse in seiner Knappheit gerade genug Freiraum für eigene Interpretationen. Im Endeffekt kommt es wohl darauf an, wie man Filme sieht. Für jemanden, der Filme vor allem auf der emotionalen Ebene wahrnimmt, wird es nur sehr schwer möglich sein, an die kühlen, radikal reduzierten Charaktere heranzukommen. Schafft man es aber, dem Film auf seiner abstrakten Ebene zu begegnen, wird man reichlich entlohnt. Es gilt, ein unendlich komplexes, aber immer nachvollziehbares Geflecht von Beziehungen, Schuld und Hoffnungen für sich zu entdecken, dass näher an echte Menschen und wahre Gefühle herankommt, als die den deutschen Kinomarkt überschwemmenden Sozialdramen. „3 Grad kälter“ ist es an einem Bahngleis, an dem das Schicksal der Protagonisten immer wieder in neue Bahnen gelenkt wird, an dem sich Maria am Schluss zwischen dem neuen Leben mit Jan und ihrem alten mit Frank entscheiden muss. Vor allem aber ist „3 Grad kälter“, auch wenn nicht jeder etwas mit ihm anfangen kann, das aufregendste Stück deutsches Kino seit langer Zeit.