„Lola rennt“ ist wahrscheinlich „der“ deutsche Film der späten 90er Jahre. Schnell, pulsierend, dynamisch ist der Thriller, der auf herausragende Weise das Lebensgefühl dieser Zeit einfängt. Tom Tykwer schaffte es mit „Lola rennt“, die deutsche Filmindustrie aus ihrem Schneewittchenschlaf zu wecken und auf dem internationalen Parkett zu beweisen, dass auch Filme „made in Germany“ durch Originalität und Experimentierfreudigkeit glänzen können. Für den Regisseur und seine damalige Lebensgefährtin Franka Potente sollte das Werk, welches auf den Filmfestivals weltweit gefeiert und obendrein zu einer der kommerziell erfolgreichsten deutschen Produktionen im Ausland wurde, den großen Durchbruch bedeuten.
Ein ganz normaler Tag in Berlin kurz vor der Jahrtausendwende. Manni (Moritz Bleibtreu) fungiert erstmalig als Geldkurier einer Autoschieberbande. Doch der vermeintlich einfache Loyalitätsbeweis gegenüber dem Bandenführer entpuppt sich als großes Problem als Manni beim Versuch den U-Bahn-Kontrolleuren aus dem Weg zu gehen, die Tüte mit den 100.000 Mark liegen lässt. Verzweifelt ruft er seine Freundin Lola (Franka Potente) an. Sie verspricht ihm eine Lösung für das Dilemma zu finden und bis zwölf Uhr bei ihm zu sein. Sie rennt los.
„Jeden Tag, jede Sekunde triffst du eine Entscheidung, die dein Leben verändern kann.“
Nach den ersten zehn Minuten ist bei „Lola rennt“ die gesamte Problematik offen gelegt. Doch die Geldübergabestory ist nur die Rahmenhandlung des Films, in dem es um die Macht des Schicksals, die unser aller Leben bestimmende Zeit und die Liebe geht. Nachdem Manni Lola über seine missliche Situation aufgeklärt hat, fängt ihr Denkapparat an zu rasen. Ihr bleiben nur 20 Minuten, um 100.000 Mark aufzutreiben, 20 Minuten, um Mannis Leben zu retten. Bereits hier wird die besondere Visualität des Films ersichtlich. Die Kamera rotiert in irrsinniger Geschwindigkeit um die Rothaarige, während im Sekundentakt die Silhouette der Personen auftauchen, die ihr als vermeintliche Helfer in der Not in den Sinn kommen. Als ihre Entscheidung auf ihren, in einer Bank tätigen, Vater gefallen ist, rennt sie los - im gleichen Moment, in welchem im eingeschalteten Fernseher eine Dominokettenreaktion ausgelöst wird. Bei ihrem Lauf gegen die Zeit um Leben und Tod tritt die Geschichte zu Gunsten der vielen visuellen Spielereien beinahe in den Hintergrund.
„Lola rennt“ erscheint wie die Spielwiese Tom Tykwers („Winterschläfer“, „Der Krieger und die Kaiserin“, „True“, „Heaven“), auf der er die vielen technischen Möglichkeiten des filmischen Mediums ausprobieren kann. Hier geben sich Realfilm, kurze Animationspassagen und Fotoreportagen die Klinke in die Hand. Es wird mit Zeitlupe, Splitscreen-Technik und rotierender Kamera gearbeitet. Dazu kommen schnelle Schnitte im Stakkato-Rhythmus à la MTV, die dem Film ein ungeheures Tempo verleihen. Die treibende, hervorragend mit den Bildern harmonierende Techno-Musik tut das ihrige dazu. Stimmlich sind Tykwer und Potente sogar auf diesem wirklich gelungenen Soundtrack zu vernehmen.
Moritz Bleibtreu als Manni, Joachim Krol und Heino Ferch, die in ihren Rollen beinahe nicht wiederzuerkennen sind, zeigen, wie der übrige Cast, ordentliche Leistungen und wissen die leider etwas klischeehaften Figuren darzustellen. Franka Potente ist als titelgebendes Energiebündel Lola die große Entdeckung des Films. Die Kraft, Entschlossenheit und Lebendigkeit der jungen Frau mit dem Girlie-Style bringt sie perfekt rüber und bleibt dem Zuschauer nicht allein durch ihre läuferische Leistung, sondern vor allem durch ihr Spiel im Gedächtnis.
Nach einem Drittel der Spielzeit ist die eigentliche Handlung beendet, doch im Stile von „Und täglich grüßt das Murmeltier“ wird dem Betrachter eine zweite und dritte Variante des möglichen Handlungshergangs dargeboten. Unterbrochen werden die einzelnen Handlungsvarianten von in Rotlicht getauchten kurzen Dialogen zwischen Manni und Lola. Im Bett liegend sprechen die beiden über die Irrationalität der Gefühle und den Unterschied zwischen fühlen, glauben, denken und wissen.
Die beiden Alternativhandlungen setzen jeweils nach Lolas Entschluss, ein ihren Vater aufzusuchen, um ihn um Hilfe zu bitten. Das eigentlich vollkommen irrelevant erscheinende Treppenhaushinunterhechten im Zeichentricklook markiert den Grund für das Abweichen der Geschehnisse. An dem sich im Treppenhaus befindenden Hund läuft Lola in der ersten Variante einfach vorbei, in der zweiten bringt er Lola zum Stürzen, was sie wichtige Sekunden kostet. In der dritten macht sie einen großen Sprung, um den kläffenden Vierbeiner hinter sich zu lassen und gewinnt so Zeit hinzu. Die wenigen Sekunden, die Lola so gewinnt bzw. verliert, sollen zu äußerst unterschiedlichen alternativen Zukunftsverläufen führen. Getreu dem Glauben der Flügelschlag eines Schmetterlings könnte irgendwo auf der Welt einen Wirbelsturm verursachen. Dabei ändert sich nicht nur Lolas eigene, sondern auch die Zukunft aller Personen auf die sie während ihres Dauerlaufs trifft. Deren Zukunft wird oftmals in kurzen, rasend schnell geschnittenen Fotoreportagen wiedergegeben. Jeder Augenblick zählt hier, denn er könnte die Zukunft maßgeblich beeinflussen, auch wenn das Schicksal immer die Rahmenbedingungen vorgibt.
Wir lassen nie vom Suchen ab,
und doch, am Ende allen unseren Suchens,
sind wir am Ausgangspunkt zurück
und werden diesen Ort zum ersten Mal erfassen
T.S. Elliot
„Lola rennt“ ist ein Feuerwerk der technischen Möglichkeiten, ein rasanter Film, der auf ungewöhnliche, innovative und visuell einmalige Weise die Zukunftsbestimmung und Schicksalhaftigkeit thematisiert. Eines der jüngeren Werke des deutschen Films, das jeder gesehen haben sollte.