Horror-Märchen mit Kultpotenzial
Von Janick NoltingDass die Märchen der Gebrüder Grimm häufig so gar nicht kindertauglich sind, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Stattdessen ist der Horror in diesen weltberühmten Geschichten meist fest verankert. Manchmal ganz beiläufig werden da Mord und Totschlag, Folter und Verstümmelung geschildert – physischer und psychischer Natur. Zimperlich geht es in der Märchenwelt nicht zu. Im Kino trauen sich Kreative hingegen nur selten, tatsächlich einmal die Abgründe und Grausamkeiten dieser ikonischen Stoffe auszureizen und in Bilder zu übersetzen. Auf der Leinwand soll das alles möglichst familientauglich bleiben. Leider!
Auftritt: Emilie Blichfeldt. Die Norwegerin präsentiert mit ihrem Langfilmdebüt „The Ugly Stepsister“ eine Neuerzählung der Aschenputtel-Geschichte, die einen in ihrer Kompromisslosigkeit regelrecht überwältigt. Blichfeldt versieht das Märchen nicht nur mit einem zeitgemäßen Twist in ihrer Erzählperspektive, sondern treibt die Brutalität der Vorlage auch mehrfach an die Ekelgrenze. Schon nach der Weltpremiere in Sundance entwickelte sich schnell ein kleiner Hype um dieses außergewöhnliche Debüt. Vergleiche mit Coralie Fargeats „The Substance“ waren zu lesen – und „The Ugly Stepsister“ wird diesem Vergleich als Abrechnung mit Schönheitskult und Geschlechterrollen absolut gerecht.
„The Ugly Stepsister“ orientiert sich eng an dem Märchen, wie es bei den Grimms nachzulesen ist. Mit einem Unterschied: Hier ist nicht das gedemütigte Aschenputtel die Hauptfigur, sondern ihre als hässlich markierte Stiefschwester. Elvira (Lea Myren), ihre Schwester Alma (Flo Fagerli) und ihre ehrgeizige Mutter (Ane Dahl Torp) sind gerade umgezogen. Mutter hat einen neuen Mann geheiratet. Als dieser unerwartet stirbt, steht die Familie vor dem finanziellen Ruin. Also bleibt nur eine Option: eine weitere reiche Heirat. Elvira träumt davon, den Prinzen (Isac Calmroth) erobern zu können. Doch mit ihrer hübschen Stiefschwester Agnes (Thea Sofie Loch Næss) bekommt sie harte Konkurrenz …
Genau wie der mehrfach oscarnominierte „The Substance“ wirft auch „The Ugly Stepsister“ einen knallharten Blick darauf, welchen Preis insbesondere Frauen dafür zahlen, um in einer Gesellschaft als begehrenswert zu erscheinen. Das Ich und der weibliche Körper werden zur permanenten Baustelle erklärt, die Frau zum Konstrukt, das mit allerlei Werkzeug geformt und malträtiert werden muss. Das Leiden für die Schönheit und die Abrichtung des menschlichen Subjekts gipfeln so in brutalem Body Horror, der hier wohldosiert, aber mit enormer Intensität zuschlägt.
Kulturelle Disziplin und fragwürdige Schönheit-OPs vergangener Jahrhunderte führen in „The Ugly Stepsister“ bis an den Rand der Selbstzerstörung. Man ist also wiederholt versucht, wegzusehen, etwa wenn falsche Wimpern mit Nadel und Faden an Augenlider genäht werden. Vorher gibt’s noch eine Ladung Koks zur Beruhigung – auch für den Arzt. Fürchten und Lachen liegen so eng beieinander. Eine Nase wird mit Hammer und Meißel ramponiert und wer Grimms Märchen kennt, weiß, dass ein zu kleiner Schuh Anstoß für so manche Schandtat geben kann. Umso bitterer, dass in diesem Film gar nicht die (ebenfalls verachtenswerten) Männerfiguren Anstoß für derlei Grausamkeit geben. Stattdessen ist es zunächst die ehrgeizige Mutter, die den Sexismus und die Diskriminierung selbst so verinnerlicht hat, dass sie ihrer Tochter nichts als Selbsthass und Drill zu vererben hat.
„The Substance“ handelte von dem Horror, den der Jugendwahn und die Anpassung an eine Norm entfesseln können. Demi Moore und Margaret Qualley kämpften dabei als älteres und jüngeres Ich gegeneinander und gegen die Horror-Bilder, die jene Schönheitsnorm als ihre Kehrseite hervorbringt. Auch „The Ugly Stepsister“ entwickelt sich zum erbitterten Duell, nämlich dem zwischen zwei Stiefschwestern, die um nichts weniger als um ihre Zukunft und Existenz kämpfen. Zwar geht es in Emilie Blichfeldts Horror-Märchen nicht ganz so exzessiv und splatterig zur Sache, aber in puncto Eskalation, Ekelfaktor und thematischer Abgründigkeit nehmen sich beide Filme wenig.
Blichfeldts Film fächert den Horror über verschiedene gesellschaftliche Klassen und Wohlstandsverhältnisse hinweg auf. „The Ugly Stepsister“ ist (im Gegensatz zu „The Substance“) kein Film, der seine Gesellschaftskritik vorrangig den Strukturen des Showgeschäfts in die Schuhe schiebt. Stattdessen zeigt er seine brutalen Körperpraktiken ebenso als Sinnbild und Ausgeburt eines Klassenkampfes, der weitaus größere, universelle Dimensionen annimmt. Er projiziert ihn nicht auf übergroße, schillernde Stars und Poster-Models, sondern lässt verschiedene Repräsentant*innen auftreten, die alle in diesen Wett- und Schaukampf verstrickt sind.
Schönheit wird hier als Teil des Kapitals betont, um einen Aufstieg zu schaffen, den das Königsschloss oben auf dem Hügel symbolträchtig verspricht. Um finanzielle Absicherung zu erlangen, bleiben nur die Unterwerfung mit Haut und Haar unter den Sexismus und die Rollenmuster der Gesellschaft. Eine interessante Abzweigung dabei: Der Bedienstete im Haus, der Beherrschte also, wird ebenfalls zu einem Objekt der Begierde, einer erotischen Fantasie, von der andere zugleich wissen, dass sie keine sichere Zukunft verspricht. Also wird selbst das Begehren zum Tabu. Es gibt Anstoß für die nächste Intrige und Eskalationsstufe. „The Ugly Stepsister“ erzählt damit implizit ebenso etwas über Selbstverachtung und die Furcht davor, wie dieser „einfache“ Angestellte zu werden und am unteren Ende der Kette zu landen.
Es ist furios, wie stilsicher Emilie Blichfeldt bei alldem zwischen Spaß und Ernst, Spannung, schwarzer Komödie und garstigem Ekelhorror springt. Die Künstlichkeit der höfischen Welt verkehrt sie mit dem Schwindel und Taumel. Der Ball, auf dem der Prinz umgarnt werden soll, verwandelt sich in einen beklemmenden, dekadenten Albtraum, in den sich Übelkeit und Fäulnis schleichen und zu dem der Magen-Darm-Trakt der Hauptfigur immer stärker auf der Tonspur rumort. Schönheit kann man schließlich auch von innen beeinflussen. Was letztlich dabei herauskommt, soll an dieser Stelle nicht vorweggenommen werden.
Die Regisseurin durchzieht ihr historisches Setting immer wieder mit Brüchen und sei es im Einsatz moderner elektronischer Klänge. Ihr Märchen-Update erlangt dadurch seine ganz eigene, überzeitliche Parabelhaftigkeit. Sie bewahrt den Film davor, allein zum verstaubten Kostümschinken über finstere, vergangene Zeiten zu verkommen. Darüber hinaus können all jene aufatmen, denen etwa „The Substance“ am Ende zu zynisch in seiner Zuspitzung war. „The Ugly Stepsister“ ist versöhnlicher, fürsorglicher im Umgang mit seiner Protagonistin –und dennoch keineswegs naiv oder verharmlosend.
Wo die Desillusionierung eingetreten ist, wird hier nicht einfach nachgetreten, um in der Logik des Spektakels zu bleiben. Stattdessen erzählt Blichfeldt, wie sich ihre Ausgestoßenen an einer Solidarität üben und nach einem Dasein jenseits der verkrusteten Strukturen der Elterngeneration suchen. Der Film bewahrt eine gewisse Milde, bleibt nicht gänzlich pessimistisch – und schmälert trotzdem nicht seine Kritik und Polemik, die er dem Publikum mit allerlei Körperflüssigkeiten, nackter Haut und provoziertem Phantomschmerz um die Ohren haut.
Und wer weiß, vielleicht mausert sich „The Ugly Stepsister“ für manche ja zu einem ähnlichen Kult-Märchen für die Weihnachtszeit wie die „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, auf die hier ebenfalls angespielt wird. Vorausgesetzt natürlich, die Kinder in der Familie schlafen schon und das Festtagsessen ist vorher gut verdaut!
Fazit: Emilie Blichfeldt meistert eine grandiose, zeitgemäße Aschenputtel-Adaption – schwarzhumorig, mitreißend, schmerzhaft und grauenerregend. „The Ugly Stepsister“ ist eine der stärksten Märchen-Verfilmungen überhaupt, gerade weil sie ganz sicher NICHT „für die ganze Familie geeignet“ ist.
Wir haben „The Ugly Stepsisters“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er in die Sektion Panorama eingeladen wurde.