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    Sexy, provokant & extrem(!) blutig: Lange vergessenes Horror-Meisterwerk läuft heute ohne Werbung im TV
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Sein erster Kinofilm war Disneys „Aladdin“. Schon in der Grundschule las er Kino-Sachbücher und baute sich parallel dazu eine Film-Sammlung auf. Klar, dass er irgendwann hier landen musste.

    Meisterregisseurin Claire Denis machte vor über 20 Jahren einen Abstecher ins Horrorgenre, heute läuft ihr extrem blutiger und sinnlicher Vampirfilm im deutschen TV. Und zwar uncut und ohne Werbung.

    +++ Meinung +++

    „Sex sells“, besagt eine Binsenweisheit, und erfahrungsgemäß sorgt literweise Blutvergießen zumindest für gesteigerte Neugier. Doch selbst diese Zutaten sind keine Wundermittel, wie Claire Denis bezeugen dürfte. Obwohl die Regisseurin im Arthouse-Sektor einen Star-Status innehat, dauerte es mehr als 20 Jahre, bis sich ein deutscher Verleih fand, der ihren sinnlichen, ultrablutigen Vampirfilm „Trouble Every Day“ ins hiesige Heimkino holte.

    Gut möglich, dass das ursprüngliche Presseecho daran eine Mitschuld trägt: Der Fleischeslust-Thriller feierte seine Weltpremiere bei den Filmfestspielen von Cannes 2001, wo weite Teile der Presse gleichgültig bis ratlos auf ihn reagierten. Seither erarbeitete er sich schleichend den Ruf eines verkannten Geniestreichs.

    Am heutigen Montag, den 26. September 2022 läuft „Trouble Every Day“ um 22.05 Uhr auf Arte. Die TV-Ausstrahlung ist nicht nur uncut, sondern kommt auch ohne Werbung daher.

    Erst im Frühling dieses Jahres kam das lange vergessene Horror-Meisterwerk erstmals in die deutschen Kinos – und seit Kurzem ist „Trouble Every Day“ nun endlich auch auf DVD und Blu-ray erhältlich.

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    Die Heimkino-Veröffentlichung des Kölner Labels Rapid Eye Movies basiert auf einer aufwändigen 4K-Restauration des Films, die von Kamerafrau Agnès Godard persönlich überwacht und Regisseurin Claire Denis abgesegnet wurde. Übrigens: Der Film liegt nur im französischsprachigen Original mit optionalen deutschen Untertiteln vor.

    "Trouble Every Day": Schatz, du bist zum Anbeißen!

    Wissenschaftler Shane Brown (Vincent Gallo) und seine Gattin June (Tricia Vessey) besuchen kurz nach ihrer Eheschließung Paris. Sie denkt, dass es ein romantischer Ausflug werden soll, er hat aber die heimliche Absicht, dort seinen verschollenen Kollegen Léo (Alex Descas) zu suchen. Léo erschuf bei gewagten Experimenten Wesen, die während des Paarungsaktes ihren Partner töten und verspeisen. Léos Frau Coré (Béatrice Dalle) war Teil der Versuchsreihe und hat seither ihre Libido nicht mehr unter Kontrolle. Auch Shane war ein Versuchsobjekt Léos, kann die Auswirkungen jedoch dank einiger Medikamente drosseln. Zumindest bisher...

    Dafür, dass die Cannes-Rezeption 2001 eher verhalten war, ging in arthouse-affinen Kreisen ein ziemlich erfreutes Raunen umher, als Rapid Eye Movies „Trouble Every Day“ zurück ins Rampenlicht geholt hat. Womöglich, weil der Zahn der Zeit dem Film überaus wohlgesonnen war: Was 2001 noch als sinnlich-sinnierender, wortkarger Erotik-Thriller mit ordentlich Blutvergießen zwischen zwei Stühle fiel, offenbart sich heute als Vorbote solcher Filme wie Julia Ducournaus „Raw“ und „Titane“. Sie alle sind mutige, eigensinnige Kollisionen aus introspektiver Kunst und feistem, dreistem Genrekino.

    Raw

    „Trouble Every Day“ hat ein elegisches Erzähltempo, die musikalische Untermalung ist sehnsüchtig und ruhig. Doch das, was geschieht, sowie Denis' und Agnès Godards Ästhetik werden konsequent abgründiger. Romantische Küsse werden leidenschaftlich. Leidenschaftliche Küsse werden zu animalischem Geschmatze. Das animalische Geschmatze geht ins Knabbern über, in Bisse und Gekaue. Die Kamera wiederum beginnt distanziert, wird voyeuristisch und ist letztlich hautnah dabei. Ihr Blick ist nie verstörend, angewidert oder geifernd, sondern voller Begierde und Sinnlichkeit.

    Denis unterstreicht damit sinnbildlich die Gefühlslage ihrer Figuren, denn trotz des Vampir- und Kannibalismus-Elements geht es hier niemals um das Degradieren der Gebissenen. Kontrollverlust glimmt zwischenzeitlich als Aspekt auf, doch unter in diesem Genre selten erlebten Vorzeichen: Vincent Gallo als Shane Brown scheut sich lange davor, sich zu sehr von seiner Passion mitreißen zu lassen, was im Film schlussendlich als zu große Vorsicht zu verstehen ist. Denn vornehmlich inszeniert Denis in ihrem Vampirfilm Körper, die sich vollauf und beidseitig der Intimität hingeben – und die extrem blutige Gewalt unterstreicht das wuchtige Befreien von jeglicher verkopfter Sorge, die dem instinktiven Verständnis im Weg steht.

    Dass „Trouble Every Day“ so wortkarg ist und man sich beim Betrachten jeglichen Kontext aus den wenigen gesagten Worten und den gierigen Blicken des Casts zusammenreimen muss, wirkt eingangs tatsächlich kontraproduktiv: Die Dialogarmut wirkt verkopft, statt emotional. Doch sobald man sich auf die ganz spezielle, metaphorische Wellenlänge dieser schwierig zu erklärenden, leicht zu begreifenden Figuren begeben hat, offenbart sich dieser Ansatz als konsequent. Wozu reden, wenn man's auch einfach spüren kann?

    Zu viel Sex & Gewalt: Dieser Folter-Horror war zu krass für die FSK – und erscheint nun dennoch ungekürzt fürs Heimkino!

    Dies ist eine Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.

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