+++ Meinung +++
Jahrzehnte, bevor er im weit über drei Stunden langen „The Irishman“ glänzte, war Robert De Niro bereits Teil eines Films, der die imposante Laufzeit des Mafia-Biopics mit Leichtigkeit in den Schatten stellt. Obendrein trat dieser viel heftigere Debatten los als Martin Scorseses Netflix-Film. Die Rede ist von „1900“, einer italienisch-französisch-deutschen Koproduktion aus dem Jahr 1976, die mit satten 317 (!!) Minuten zu Buche schlägt. In der Zeit könnte man auch „The Irishman“ und „The King of Comedy“ schauen. Naja, fast – man würde um eine Minute überziehen. Doch es war nicht die Länge, die das zeitgenössische Publikum aufgebracht hat: „1900“ musste sich in Italien unter anderem aufgrund einer drastischen Sex-Szene mit Robert De Niro, Gérard Depardieu und Stefania Casini („Suspiria“) den Vorwurf gefallen lassen, Pornographie darzustellen.
Daher war der Film in seinem Heimatland kurzzeitig sogar auf dem Index. In mehreren weiteren Ländern musste der Film um einige sexuell explizite Momente gekürzt werden. In Deutschland wurde das Kinodrama aufgrund seiner Länge in zwei Teile geteilt, wobei der erste ursprünglich eine FSK-Freigabe ab 18 Jahren erhielt – aber wenigstens ohne Kürzungen. 2005 erschien der Film in einer eher lieblosen DVD-Edition, 2019 bekam „1900“ (nun durchweg frei ab 16 Jahren) endlich eine HD-Veröffentlichung – die jedoch bei den großen Onlinehändlern gar nicht mehr zu haben ist. 2021 folgte die überfällige Neuauflage, die erneut rasch ausverkauft war, weshalb am 11. August 2022 nun noch eine weitere Neuauflage veröffentlicht wird:
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Wer 2019 oder vergangenes Jahr zu spät auf „1900“ aufmerksam gemacht wurde, kann dieses Versäumnis also jetzt endlich nachholen: Plaion Pictures (ehemals Koch Media) bringt das Epos erneut als limitiertes Mediabook heraus. Es umfasst beide Teile des epochalen Skandalfilms auf jeweils einer Blu-ray sowie eine Bonus-Disc.
Darum geht es in "1900"
Das Epos von Bernardo Bertolucci (der mit „Der letzte Tango in Paris“ ein weiteres legendäres Skandalwerk geschaffen hat) dreht sich um zwei sehr unterschiedliche Leben: Am 27. Januar 1901, Giuseppe Verdis Todestag, werden in Norditalien Alfredo Berlinghieri (De Niro) und Olmo Dalcò (Depardieu) geboren. Während Alfredo Sohn eines reichen Gutsbesitzers ist, kommt Olmo als Spross eines Landarbeiters zur Welt. Somit sind die Biografien beider von Tag eins an vorbestimmt.
Während Alfredo zu einem Juristen und Gutsherren heranwachsen soll, steht es außer Frage, dass Olmo ihm dienen wird. Doch drastische historische Einschnitte wirbeln die Lebensentwürfe der Freunde gehörig durcheinander. Der Erste Weltkrieg, der Landarbeiterstreik, eine Weltwirtschaftskrise und der Aufstieg des Faschismus, angeführt von Mussolini. Und dann ist da noch Ada – eine Frau, die zwischen ihnen hin- und hergerissen ist, und die beide Männer immer wieder zum Nachdenken bringt …
Eine Oper von einem sexuell aufgeladenen Historiendrama
Dass die Geschichte von „1900“ am Todestag eines einflussreichen Komponisten beginnt, ist kein Zufall: Denn Bertoluccis Drama ist in seiner ausführlichen Länge, in seiner aufgeladenen Symbolhaftigkeit und seinem getragenen, mitreißenden Tonfall sehr opernhaft. Und die Musikuntermalung von Filmmusik-Legende Ennio Morricone verstärkt diesen Effekt enorm: Für den Soundtrack adaptierte der Komponist einige bekannte Melodien aus Verdi-Opern, zudem schrieb Morricone eine neue Kantate, die so bewegend und aufrührend ist, dass sie nach Veröffentlichung des Films in Spanien sogar zur inoffiziellen Hymne der Sozialistenbewegung wurde.
Allein schon, um Morricones Score in guter Qualität zu erleben, lohnt es sich also, „1900“ auf Blu-ray zu genießen. Aber auch visuell ist „1900“ ein Erlebnis: Bertolucci und Kameramann Vittorio Storaro zeigen in prächtigen Bildern die Schönheit Italiens und bilden zudem im Laufe der monumentalen Laufzeit die großen Umwälzungen in Mode und Technologie ab. Und natürlich äußert sich das Ringen zwischen Sozialismus, Faschismus und Kapitalismus in Italien nicht nur auf der erzählerischen, sondern auch auf bildlicher Ebene.
Dieser TV-Meilenstein bietet 6 Stunden Survival-Abenteuer in der harschen Wildnis – jetzt feiert er sein Heimkino-ComebackWenn dieses wuchtige Porträt mehrerer Jahrzehnte italienischen Geisteswandels einen Makel hat, dann sind es die gelegentlich verwunderlich steif geratenen Darbietungen des riesigen Casts. „1900“ ist derart bewusst-unsubtil erzählt (Donald Sutherlands Faschistenrolle beispielsweise heißt Atilla und ist ein pädophiler Sadist, der Tiere aus Spaß tötet), dass dieser Stoff eigentlich auch nach einem opernhaften Spiel voller selbstbewusstem Pathos schreien würde.
Stattdessen agieren aber selbst Mimen wie Depardieu und De Niro, die sonst nicht gerade für zurückhaltendes Spiel berühmt sind, in einigen Passagen von „1900“ geradezu wie gehemmt. Aber vielleicht ist es auch ein Zugeständnis Bertoluccis, der sein Publikum in diesem exzessiven Film nicht auch noch mit dem exzessiven Schauspiel seiner zwei zentralen Darsteller überwältigen wollte?
Schließlich sind in diesem stark zugespitzen Film die Protagonisten Alfredo und Olmo dennoch nuanciert skizziert und offenbaren in den über fünf Stunden Laufzeit einige charakterliche Widerhaken. Die sind es schlussendlich auch, die einen packen und durch dieses Epos zerren.
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