„365 Days“ war 2020 ganz ohne Zweifel einer der Überraschungshits auf Netflix. Das polnische Thriller-Drama mit Erotik-Anleihen erinnerte dabei nicht zuletzt an die ebenfalls auf einer Buchreihe basierenden „Fifty Shades Of Grey“-Filme, unterscheidet sich bei genauerer Betrachtung dann aber doch hier und da von der Hollywood-Konkurrenz: Denn es geht nicht nur etwas freizügiger zur Sache, sondern driftet in Sachen Mann-Frau-Beziehung auch immer wieder in ganz besonders fragwürdige Gefilde ab. Und was den Plot angeht: Passte die Geschichte von Christian Grey und Anastasia Steele noch auf einen Bierdeckel, reicht beim polnischen Pendant auch eine Briefmarke.
Egal, der Erfolg scheint dem Konzept Recht zu geben. Immerhin eroberte auch die Ende April gestartete Fortsetzung „365 Days 2: Dieser Tag“ die Top 10 auf Netflix. Dabei war jener Erfolg genau genommen gar nicht nötig, um noch einen Teil auf den Weg zu bringen: Nachdem der erste Film nämlich derart einschlug, drehte man „365 Days 3“ gleich in einem Abwasch mit Teil 2. Fans des substanzlosen, toxischen und furchtbar glattgebügelten Sexy-Machtspiel-Franchise müssen sich aber erst einmal noch ein wenig gedulden, bis Netflix den dritten Film nachlegt. Wer Lust auf freizügige Unterhaltung hat, die sogar mit einer großen Portion echtem Sex daherkommt, darüber hinaus aber vor allem mitreißt und schockiert, berührt und zum Nachdenken anregt, wird sogar schon jetzt auf der Streaming-Plattform fündig. Denn dann können wir euch „Nymphomaniac I“ und „Nymphomaniac II“ empfehlen.
"Nymphomaniac": Ein klassischer Lars-von-Trier-Schocker
Im Zentrum des in zwei Filme sowie acht Kapitel unterteilten Erotikdramas steht die Nymphomanin Joe (Charlotte Gainsbourg), die – zusammengeschlagen und halb bewusstlos – eines Tages von einem Mann namens Seligman (Stellan Skarsgård) in einer dunklen Seitenstraße aufgelesen wird. Er nimmt sich der Frau an, bietet ihr ein Bett und pflegt sie gesund, woraufhin ihm die Frau ihre sexuelle Lebens- und Leidensgeschichte erzählt.
Das Bild ist schwarz. Hat der Film schon begonnen oder hängt Netflix wieder mal? Warten. Aber nein, da tut sich was. Eine verschneite Seitenstraße erscheint. Dunkel. Nass. Und dennoch irgendwie malerisch. Geradezu lautlos schwebt die Kamera durch die Gasse. BOOM! Wie aus dem Nichts feuert Rammstein aus allen Rohren. Ja, Regisseur Lars von Trier („Dogville“, „Melancholia“) macht seinem Publikum gleich in den ersten Sekunden mehr als deutlich, worauf es sich hier eingelassen hat: einen Schlag in die Magengrube, wie ihn eben kaum ein zweiter Filmemacher sonst hinbekommt.
Hier trifft Poesie auf Neue Deutsche Härte, Liebe auf (Selbst-)Hass, Anziehung auf Abstoßung, Sex auf Gewalt – und mittendrin das Publikum, all dem schutzlos ausgeliefert, was sich der Skandal-Regisseur jetzt schon wieder ausgedacht hat. Hauptsache er konnte die Filmfestspiele von Cannes mal wieder in ihren Grundfesten erschüttern. Aber so ist das nun mal mit dem dänischen Dogma-95-Begründer: Er macht die Menschen neugierig, lockt sie ins Kino und fegt dann dermaßen kompromisslos über sie hinweg, dass es sie regelrecht vom Sitz wirft – in vielen Fällen sogar aus dem Kinosaal, noch lange bevor sein Film zu Ende ist.
"Ekelhaft": Lars von Triers "The House That Jack Built" sorgt in Cannes für Empörung und ZuschauerfluchtDie beiden mit weiteren Stars wie Mia Goth, Shia LaBeouf, Uma Thurman, Connie Nielsen und Christian Slater sowie Stacy Martin, die in „Nymphomaniac“ einst ihr Kinodebüt feierte, gespickten Filme sind von-Trier-typisch gewaltig auf Krawall gebürstet, darauf ausgelegt, ihrem Publikum den Boden unter den Füßen wegzureißen. Und dann noch nachzutreten. Dass es dem Dänen dabei auch hier immer wieder gelingt, seine Zuschauer*innen am falschen Fuß zu erwischen, ist dabei ganz besonders beeindruckend – immerhin weiß man mittlerweile, wie von Trier tickt. Nur weiß der eben auch ganz genau, wie sein Publikum drauf ist.
Ihren gewissen Beitrag dazu leisten unter anderem gänzlich unromantische, in ihrer Kühlheit fast schon verstörende Sexszenen, für die übrigens tatsächlich vor der Kamera kopuliert wurde. Während wir in jenen Sequenzen hüftaufwärts das eben erwähnte Starensemble höchstselbst sehen, wurden die expliziten Intimaufnahmen allerdings mit Pornodarstellern und -darstellerinnen gedreht.
Um eine Rolle in „Nymphomaniac“ zu bekommen, griff Shia LaBeouf übrigens zu wahrlich unwillkürlichen Mitteln, nachdem von Trier den „Transformers“-Star vorab bat, ihm Bilder seines Penis zu schicken. Gewillt nahezu alles zu tun, um für den berühmt-berüchtigten Regisseur einmal vor der Kamera zu stehen, schickte der Schauspieler ihm aber nicht einfach nur einen Schnappschuss von seinem besten Stück, sondern direkt eine Reihe von Videos, auf denen er mit seiner Freundin Sex hat. Mit Erfolg. Wer bereit ist, so weit zu gehen, hat den Part redlich verdient – fand am Ende auch Lars von Trier.
Achtung: Der Director's Cut geht fast 1,5 Stunden (!) länger
„Nymphomaniac“ funktioniert am besten, wenn man beide Filme direkt hintereinander schaut. Das bedeutet für den Stream via Netflix, für satte vier Stunden in die Welt von Joe und ihrer sexuellen Reise einzutauchen. Auf der Streaming-Plattform stehen „Vol. I“ und „Vol. II“ nämlich in der Kinofassung zur Verfügung. Die volle Ladung „Nymphomaniac“ gibt es allerdings nur im Director's Cut. Teil 1 ist in der erweiterten Fassung fast knapp 30 Minuten länger, Teil 2 bekommt beinahe eine ganze Stunde (!) oben drauf.
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Gut zu wissen: Die gekürzten, auf Netflix verfügbaren Versionen wurden von einem Produzenten angefertigt, um eine etwas massentauglichere Version von „Nymphomaniac“ in die Kinos zu bringen. Die Langfassungen sind hingegen diejenigen, für die von Trier selbst verantwortlich zeichnete. Ob länger aber automatisch auch gleich besser heißt, muss am Ende jeder für sich selbst entscheiden. Während alternative Versionen anderer Filme in der Regel lediglich im Detail verändert wurden, sodass die Neuerungen vielen Zuschauern und Zuschauerinnen oft gar nicht auffallen, sind die Unterschiede zwischen Kinofassung und Director's Cut im Fall von „Nymphomaniac“ allerdings exorbitant.
Eineinhalb Stunden mehr machen aus „Nymphomaniac“ ein völlig neues Filmerlebnis. Figuren und einzelne Handlungsstränge bekommen wesentlich mehr Fleisch auf die Knochen, gleichzeitig verändert sich dadurch aber auch das Erzähltempo des Films. Ob das Double Feature am Ende aber wirklich fünfeinhalb Stunden gehen muss? Vermutlich nicht. Dennoch: Es ist zweifellos ein spannendes Unterfangen, beiden Fassungen mal eine Chance zu geben, um sie im Anschluss gegenüberzustellen.
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