+++ Meinung +++
Niemand scheint emphatisch und menschlich vertretbar mit dem geistig beeinträchtigten Landarbeiter Sven (Stellan Skarsgård) umzugehen. Nachdem seine Mutter stirbt und er bei einem einflussreichen Fabrikanten arbeiten muss, wird er behandelt, als sei er nichts wert. Er findet durch einen glücklichen Zufall zu einer liebenswürdigen Familie, die ihn in seinen Fähigkeiten unterstützt und ihm zeigt, dass auch er ein Mensch ist, den man gut zu behandeln hat. Der Fabrikant möchte ihm aber weiterhin sein Leben so unerträglich wie möglich machen.
Trotz allem hat Sven ein Auge für die positiven Momente im Leben. Als der Fabrikant zu weit geht, sodass auch sein sonst so beherrschter Angestellter zutiefst gekränkt ist, führt dies zu einer blutigen Tat.
Der Film, den ich hier beschreibe, heißt „Der einfältige Mörder“ und er ist seit 26. Oktober 2021 auf Netflix verfügbar. Doch obwohl Marvel-Star Stellan Skarsgård (u. a. bekannt als Astrophysiker Erik Selvig aus „Thor“, „Thor 2“ und „Avengers 2“) in der Hauptrolle glänzt, dürften die wenigsten von diesem schwedischen Drama aus dem Jahr 1982 mitbekommen haben. Leider, denn „Der einfältige Mörder“ bietet nicht nur einen Top-Hauptdarsteller und eine spannende Inszenierung, sondern ist auch inhaltlich noch so relevant wie vor 40 Jahren.
Ein zeitloses und wichtiges Thema
Als ich „Der einfältige Mörder“ zum ersten Mal sah, dachte ich erst nicht, dass mich dieser Film auf eine Art und Weise berühren würde wie kein anderer. Das Drama mag zwar im Schweden der 30er Jahre spielen und ein Film aus den 80ern sein, aber der Inhalt ist absolut zeitlos.
Landarbeiter Sven wäre heutzutage vielleicht kein Landarbeiter und würde wahrscheinlich auch nicht mehr bei den Tieren schlafen müssen, doch trotzdem sollten wir uns vor Augen führen, dass Integration immer noch eine der großen Baustellen der heutigen Gesellschaft ist. Seit Beginn der 2000er gibt es insgesamt zwar ein großes Angebot der Integration, allerdings muss man auch da tiefer als nur auf die schöne Oberfläche schauen. Denn einfach haben es viele Menschen auch 2021 nicht.
Regisseur Hans „Hasse“ Alfredson behandelt diesen zentralen Punkt mit großer Feinfühligkeit, die jeden Zuschauer und jede Zuschauerin dazu bringt, sein eigenes Handeln, den Umgang mit Menschen und sich selbst zu hinterfragen.
Filmische Kniffe regen zum Nachdenken an
Doch auch auf inszenatorisch ist „Der einfältige Mörder“ sehr interessant umgesetzt. So zum Beispiel gegen Ende des Films, als sich das 30er-Jahre- plötzlich in ein 80er-Jahre-Setting verwandelt. Die Fabrik ist nun mit moderner Maschinerie ausgestattet und die Menschen sind auch nicht mehr gekleidet wie zuvor.
Das regt uns aus Zuschauer*innen zum Nachdenken an. Hat sich Sven die Geschichte aufgrund seiner geistigen Beeinträchtigung nur eingebildet? Hat das etwa gar nicht alles in den 30ern stattgefunden?
Dies würde zumindest erklären, warum die Anfangsszene wiederum hauptsächlich aus seinen Gedanken ohne Sprechstörung besteht und zeigt, was manchmal in seinem Kopf vor sich geht. Ein gutes Beispiel daraus lautet:
„Ich würde den Rollstuhl meiner Freundin zerstören. Ein paar Sekunden später lautet der Gedanke jedoch: „Aber nein, ich würde ihn spenden“. Seine Gedanken spielen ihm Streiche und er kann sie nicht kontrollieren. Es ist ein filmischer Kniff, der uns herausfordert, das Geschehene zu reflektieren. Gerade diese Zweideutigkeit, was real ist und was nicht, verleiht dem schwedischen Drama eine weitere spannende Facette.
Ausgezeichnet bei der der Berlinale und geadelt von einem Meisterregisseur
Für seine Hauptrolle in dem auf Netflix verfügbaren Drama wurde Stellan Skarsgard bei den Berliner Filmfestspielen 1982 als bester Schauspieler ausgezeichnet.
Auch Regielegende Ingmar Bergman lobte den Film mit den Worten: „Eine tiefe Empörung verwandelt in ein mächtiges Märchen. Hasse Alfredsons Ressourcen scheinen unbegrenzt und meine Bewunderung für seine Kreativität und seinen Ideenreichtum ist vollkommen.“ Was bleibt, ist viel Interpretationsspielraum und gemischte Gefühle. Ein Klassiker, den es sich anzusehen lohnt und uns die Augen öffnen kann, wenn wir es zulassen.
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