+++ Meinung +++
ZDFNeo zeigt heute, am 18. Juni 2021 um 22.05 Uhr, den 1970er-Jahre-Klassiker „Kramer gegen Kramer“. Wer sich für das New-Hollywood-Kino interessiert, bekommt nun also die Chance geboten, eine etwaige Bildungslücke zu schließen. Darüber hinaus inspirierte das mehrfach ausgezeichnete Scheidungsdrama mit „Marriage Story“ auch einen der besten Netflix-Filme überhaupt.
Neben den Academy Awards in den Kategorien Bester Film, Beste Regie, Bester Hauptdarsteller, Beste Hauptdarstellerin und Bestes adaptiertes Drehbuch, wurde „Kramer gegen Kramer“ durchgehend von der internationalen Presse gelobt. In unserer FILMSTARTS-Kritik kommt der Klassiker auf starke 4 von 5 Sternen. Im Fazit heißt es dabei: „Ein glaubhaftes und dicht inszeniertes Familiendrama mit tollen Schauspielern und einer Handlung, die auch heute nichts an Aktualität verloren hat.“
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Und das ist, meiner Meinung nach, vollkommen richtig zusammengefasst. Mag „Kramer gegen Kramer“ auch nicht an die ganz großen Meisterwerke seines Jahrzehnts heranreichen (wie z.B. „Der Stadtneurotiker“ oder „Taxi Driver“), so hat Regisseur Robert Benton hier vor allem hervorragendes Schauspielkino in Szene gesetzt. Dustin Hoffman und Meryl Streep beweisen einmal mehr, dass sie zu den Besten ihrer Generation gehören.
Darum geht es in "Kramer gegen Kramer"
Ted Kramer (Hoffman) ist ein erfolgreicher Werbefachmann und steht in seiner renommierten Werbeagentur kurz davor, zum Vizepräsidenten befördert zu werden. Seine Frau Joanna (Streep) packt jedoch vollkommen unvermittelt die Koffer und verlässt die Familie…
Ted muss sich zum ersten Mal um die Erziehung seines Sohnes Billy (Justin Henry) kümmern, nachdem er die vorherigen fünf Jahre konsequent als Workaholic in Arbeit versunken ist. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wachsen Vater und Sohn zwar immer mehr zusammen, doch dann beginnt der Streit um das Sorgerecht…
Männliche Mütterlichkeit: Dustin Hoffman als Allerziehender wider Willen
Robert Benton, der nicht nur den Regieposten bezogen hat, sondern auch die gleichnamige Romanvorlage von Avery Corman adaptierte, begeht in „Kramer gegen Kramer“ den Fehler, dass er die Vorlage ein Stück weit verkürzt. Anstatt für Ted und Joanna gleichermaßen Verständnis aufzubringen, richtet sich sein Fokus vollkommen auf den Vater, der gezwungen ist, seine männliche Mütterlichkeit zu entdecken.
Damit wirkt „Kramer gegen Kramer“ in seiner emotionalen Gewichtung tendenziös, weil er das Verhältnis zwischen Verständnis und Vorwurf in ein Ungleichgewicht bringt. Als Zuschauer ist man auf der Seite von Ted, dem Alleinerziehenden wider Willen, der zuvor jahrelang an der Kindererziehung vorbeigearbeitet hat und nun sein Potenzial als Vorzeigepapa entdeckt.
Spannend sind da vielmehr die Zwischentöne, die „Kramer gegen Kramer“ nichtsdestotrotz anschlägt. Ted und Joanna werden immer wieder einer Gegenüberstellung unterzogen, was auch den Zuschauer gewissermaßen mit der Frage konfrontiert, was hier eigentlich die mutigere Entscheidung ist: Das Flüchten oder das Bleiben? Mit Überforderung sind beide Seiten verbunden.
Netflix schlägt die Brücke zu "Kramer gegen Kramer"
Das letzte Drittel von „Kramer gegen Kramer“ funktioniert dann schon beinahe nach den Mechanismen eines Justiz-Dramas. Joanna hat sich dazu entschlossen, im Anschluss an die von ihr eingereichte Scheidung das Sorgerecht für Billy zu erlangen. Ted, der Joannas Verhalten als „mutwilliges Verlassen“ bezeichnet, wird daraufhin alles in seiner Macht Stehende tun, um seine Ex-Frau nicht gewinnen zu lassen.
Marriage StoryIn „Marriage Story“ von Noah Baumbach, der vor zwei Jahren auf Netflix veröffentlicht wurde, müssen sich Adam Driver und Scarlett Johnasson demselben Konflikt stellen: Einst galten sie als Traumpaar, doch nachdem sie sich auseinandergelebt haben, finden sie sich in einem Scheidungskrieg wieder, der eigentlich friedlich abgewickelt werden sollte – nun aber auf den Schultern eines kleinen Jungen ausgetragen wird.
Noah Baumbach schafft für mich dabei noch deutlich nuancierter, beide Seiten greifbar zu machen, was den emotionalen Punch am Ende noch einmal deutlich wirkungsvoller macht, als es beim (ebenfalls berührenden) „Kramer gegen Kramer“ der Fall ist. Die Sorgerechtsverhandlungen entfesseln in beiden Fällen Grausamkeiten, weil eine Trennung nicht immer dem entspricht, was das Herz möchte.
Am Ende siegt die Menschlichkeit
Auch wenn man es über weite Strecken der Handlung nicht glauben möchte, so ist „Kramer gegen Kramer“ kein trostloser Film – genauso wenig wie „Marriage Story“. Beide Filme zeigen schlussendlich in ungemein zärtlicher, aufmerksamer Art und Weise für mich auf, dass Gefühle niemals flüchtiger Natur sind. Sie verändern sich vielleicht, bleiben aber in einer neuen Form beständig. Dadurch kann eine Chance auf einen Neuanfang bestehen, wenn auch kein romantischer.
Der Abend ist also gleich in doppelter Hinsicht gerettet, wenn man sich nicht nur „Kramer gegen Kramer“ zu Gemüte führt, sondern im Anschluss auch bei Netflix vorbeischaut, um das durch und durch hochklassige Komplementärstück „Marriage Story“ zu sichten. Wie man auch zu den beiden Film am Ende stehen möchte, über eine Sache lässt sich nicht streiten: Die schauspielerischen Leistungen sind absolut erstklassig.
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