+++ Meinung +++
In der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ zeigt die Berlinale regelmäßig Filme von Regisseuren und Regisseurinnen, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen. Während andere Festival-Sektionen – allen voran der prestigeträchtige Wettbewerb – viel (internationale) Aufmerksamkeit bekommen, geht die „Perspektive Deutsches Kino“ dagegen leider manchmal so ein bisschen unter.
Verspielt, eigensinnig und provokant sollen die Filme der „Perspektive“ sein, so hat es sich die Berlinale jedenfalls auf die Fahnen geschrieben. Und auch wenn das ganz bestimmt nicht auf jeden Beitrag zutrifft, habe ich über die Jahre doch viel Freude daran gefunden, gerade in dieser Berlinale-Sektion so manchen Schatz zu heben, den ich ansonsten sicherlich gleich ganz verpasst hätte.
2019 und 2020 waren es vor allem die Dokumentarfilme aus der „Perspektive Deutsches Kino“, die mich im Kopf noch das ganze weitere Jahr über begleitet haben, allen voran „Born in Evin“ und „Walchensee Forever“, die dann später jeweils auch noch regulär in den Kinos anliefen – und auch aus dem Jahrgang 2021 möchte ich ebenfalls wieder zwei Dokus besonders hervorheben.
"Instructions For Survival": Transgender kann tödlich sein
Die Regisseurin Yana Ugrekhelidze wurde 1984 in Georgien geboren. Sasha, den sie in „Instructions For Survival“ mit der Kamera begleitet, ist ebenfalls dort zur Welt bekommen, wurde allerdings nach der Geburt mit einem Geschlecht registriert, das nicht seinem inneren Empfinden entsprach. Sasha ist ein Transmann – und muss deswegen in seiner Heimat um sein Leben fürchten.
Yana Ugrekhelidze begleitet Sasha durch seinen Alltag in Georgien. Die Regisseurin lässt dabei auch seine Familie zu Wort kommen, oder besser gesagt: den Teil seiner Familie, der noch etwas mit ihm zu tun haben will. Denn Sashas Transidentität hat dazu geführt, dass er auf allen Ebenen harte Ablehnung erfährt.
Das geht von Politikern, die offen zum Mord an Transmenschen und allen Nicht-Heteros aufrufen, bis zu Sashas Mutter, die ihn mit den Worten verstieß: „Es wäre einfacher für mich, wenn du im Gefängnis wärst oder tot.“
„Instructions For Survival“ hat mich mit einer enormen Wucht getroffen, weil Sasha und seine Vertrauten ebenso offen wie abgeklärt über Erniedrigungen, Ausgrenzungen und auch über physische Gewalt berichten.
So entsteht der harte, verstörende und sicherlich auch nicht falsche Eindruck, dass all das in Georgien zum „stinknormalen“ Alltag gehört. Schließlich fasst Sasha deshalb auch gemeinsam mit seiner Frau Mari den Entschluss, aus dem Land zu fliehen – und in Belgien wird er dann tatsächlich mit einem Lächeln empfangen.
"In Bewegung bleiben": Ich spaziere jeden Tag über die Mauergrenze
Eine besonders abgedroschene Formulierung über die Wirkung des Kinos lautet: „Kino verändert, wie wir die Welt sehen.“ Der Dokumentarfilm „In Bewegung bleiben“ von Salar Ghazi aber hat tatsächlich erreicht, dass ich meine Welt nun anders wahrnehme. Im Film werden Interviews mit den heute noch lebenden Mitgliedern einer Ostberliner Tanz-Gruppe gezeigt, die vor dem Mauerfall 1989 gemeinsam aufgetreten sind und von denen fünf schließlich in den Westen flohen.
Als Aushängeschilder des realsozialistischen Regimes durften die Tänzer*innen für ihre Auftritte zwar die Welt bereisen, waren davon abgesehen aber genauso in ihrem Land eingesperrt wie alle anderen DDR-Bürger auch. In Berlin hielt die – von Grenzposten zusätzlich bewachte – Mauer die Menschen davon ab, das Land zu verlassen.
Ich wohne in einer Straße, die genau an der Grenze zum ehemaligen DDR-Teil Berlins liegt. Wenn ich in zwei Minuten nach Pankow laufe, zum Beispiel am Samstagmorgen zum Brötchenholen, gehe ich auch unter den S-Bahngleisen am Bahnhof Wollankstraße hindurch und überquere damit die frühere Mauergrenze.
Letzteres war mir bisher nur auf eine abstrakte Art bewusst, so wie mir die Vergangenheit nur vage bewusst wird, wenn ich vor dem Denkmal irgendeiner Schlacht stehe, die an dieser Stelle mal gewesen sein soll: Ich kenne die Geschichte, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie irgendwas mit meinem Leben zu tun hat.
Seit ich aber „In Bewegung bleiben“ geschaut habe, denke ich bei jeder meiner Überquerungen nach Pankow an die Berliner Mauer, an dieses kahle, hässliche Bauwerk, dieses 1961 errichtete, architektonische Eingeständnis, die Bürger nicht mehr anders im eigenen Land halten zu können, als das ganze Land zum Gefängnis zu machen. Und ich denke daran, dass diese verdammte Mauer nun weg ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich über eine Grenze laufe, fühlt sich plötzlich sehr frei an.
Im Dokumentarfilm formen sich die präzise beschriebenen, ganz persönlichen Alltagserfahrungen der DDR-Tänzer*innen zum Bild einer perfiden Diktatur, die man aus heutiger Sicht allzu leicht als irgendwie ganz drolliges Trabbi-Land verharmlost. Abgesehen von sporadischen alten Tanzszenen oder vereinzelten Aufnahmen aus dem heutigen Leben der Protagonisten sitzen die Tänzer*innen dabei einfach nur vor der Kamera und erzählen von früher.
Das mag formal mitunter etwas dröge wirken, zumal bei einer Laufzeit von stolzen zwei Stunden und 20 Minuten, doch der eigentliche Film läuft hier ohnehin eher im Kopf der Zuschauer*innen ab.
Es ist ein Film über einen jahrzehntelangen Gefängnisaufenthalt, ein Film über eingesperrte Tänzer. Wobei „In Bewegung bleiben“ dabei zum Glück nie in schwermütiger Betroffenheit erstickt!
Denn die Tänzer*innen aus „In Bewegung bleiben“ erzählen persönliche, launige Anekdoten, statt nur über die Schrecken von Mauer bzw. Stasi zu referieren. Man spürt, dass sie damals durchaus auch ihren Spaß hatten. Nur war es „halt immer ganz angenehm, wenn jemand aus dem Tanzensemble erst nach der letzten Vorstellung einer Saison in den Westen abgehauen ist“, dann musste nämlich nicht wieder mitten im Betrieb alles umgestellt werden, um die geflüchtete Person zu ersetzen.
Ebenfalls im Programm der diesjährigen "Perspektive Deutsches Kino":
„Jesus Egon Christus“ von David Vajda und Saša Vajda
„Wood And Water“ Jonas Bak
„Die Saat“ von Mia Maariel Meyer
„When A Farm Goes Aflame“ von Jide Tom Akinleminu
Vom 1. bis 5. März 2021 fand die Berlinale in diesem Jahr ausschließlich als digitale Plattform für die Filmindustrie statt. Vom 9. bis zum 20. Juni ist ein Publikumsfestival geplant, wo die Filme dann auch für reguläre Besucher in Berliner (Freiluft-)Kinos gezeigt werden sollen.