+++ Meinung +++
Inhaltlich sind das Action-Epos „Barbaren“ und das Schach-Drama „Das Damengambit“ natürlich komplett unterschiedlich – aber beide starteten am vergangenen Freitag (23. Oktober 2020) neu auf Netflix und konkurrierten so um meine Gunst sowie natürlich die aller anderen Netflix-Abonnenten. Als vom Publikum favorisiert hat sich „Barbaren“ herausgestellt:
Die Verfilmung der Varusschlacht thront seit dem Starttag auf Platz 1 der Netflix-Charts.
Doch die viel bessere Serie ist „Das Damengambit“, weswegen ich hier eine Lanze für das Miniserien-Kleinod brechen möchte. „The Queen’s Gambit“, wie die Serie mit Anya Taylor-Joy im Original heißt, ist ein Beweis für die Qualitätsformate, die sich im Katalog von Netflix immer wieder finden.
Bingen am Wochenende: "Barbaren" vs. "Das Damengambit"
Vorweg: Gesehen habe ich beides, die erste Staffel von „Barbaren“ sowie „Das Damengambit“. Ja, Redakteurin und sowieso Film- und Serien-Fan zu sein, bedeutet häufig hartes Bingen am Wochenende, wenn man einigermaßen up-to-date bleiben möchte.
Ganz oben auf meiner Neu-auf-Netflix-Watchlist stand dabei „Barbaren“ – eine Serie, die ein großes Publikum finden würde, da war ich mir sicher. Und ich falle genau in die Zielgruppe: „Game Of Thrones“-Fan, Historien-Serien-Guckerin, Liebhaberin von epischer Action, gerne auch mal dramatisch-übertrieben.
„Barbaren“ fand ich dann auch ganz gut. Nichts Besonderes, aber die teils ordentliche Leistung der Besetzung sowie die solide Ausstattung und Action hielten mich bei der Stange – es hat Spaß gemacht, zuzusehen, trotz der nicht gerade einfallsreichen Dialoge.
"Damengambit": Exzellenter Cast – und spannendes Schach!
„Das Damengambit“ hatte da einen weitaus schwereren Stand – eine Serie über ein Schach-Genie. Na toll. Aber als Buchverfilmung (nämlich des Romans von Walter Tevis, der aber nicht ins Deutsche übersetzt wurde) mit historischem Setting (60er Jahre) wurden bei mir doch genügend richtige Knöpfe gedrückt.
Zudem hat mich Hauptdarstellerin Anya Taylor-Joy („Split“) in der Hauptrolle interessiert – also folgten am Wochenende auf sechs Folgen „Barbaren“ noch mal sieben Episoden „Damengambit“. Und ich bin begeistert!
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Eine feinsinnige, von einem exzellenten Cast überzeugend gespielte, üppig und detailverliebt ausgestattete Charakterstudie, in der tatsächlich sehr viel Schach gespielt wird! Aber das ist spannend wie ein Thriller inszeniert, unter anderem durch clevere Bildmontage, pulsbeschleunigendes Uhrticken und Zeitraffer. Es geht ums Gewinnen, um Strategie und um eine ganze Welt auf einem quadratischen Brett – jeder Zug kann über alles entscheiden, die Nerven liegen blank!
Beth ist süchtig nach Schach – und Beruhigungsmitteln
Dabei ist Schach nur eine der Obsessionen von Hauptfigur Elizabeth „Beth“ Harmon (Anya Taylor-Joy), die bei ihrer psychisch kranken Mutter aufwächst und nach deren Tod ins Waisenhaus kommt. Dort entdeckt die hochbegabte Neunjährige ihre Liebe zum Schachspiel, das sie vom knurrig-freundlichen Hausmeister Mr. Shaibel (Bill Camp) lernt – und zu den Beruhigungsmitteln, die von der Heimleitung an die Kinder verteilt werden.
Bald ist Beth ein Schach-Star – und hat ein Drogenproblem. Auf die Pillen folgt der Alkohol, eine Sucht, die sie mit ihrer späteren Adoptivmutter Alma (Marielle Heller) teilt. Alma nimmt Beth als 13-Jährige auf, um sich über die Leere in ihrem eigenen Leben hinwegzutrösten. Selbst schwankt sie zwischen Depression und Lebenslust, echter Liebe zu ihrer neuen Tochter und der Gier nach dem Geld, das Beth durch ihre Gewinne bei Turnieren heimbringt.
Alma ist nur eine von vielen komplexen und interessanten Figuren, die um Beth kreisen, ihr aber selten wirklich emotional nahe kommen – da wären auch noch das narzisstische Schach-Genie Benny Watts (Thomas Brodie-Sangster) oder der in Beth verliebte, aber ihr gnadenlos unterlegene Schachspieler Harry Beltik (Harry Melling, der „Dudley“ aus „Harry Potter“), um nur einige zu nennen.
Fast nebenbei wird eine Coming-of-Age-Geschichte erzählt
Fast nebenbei wird erzählt, wie Beth neben der Entdeckung von Schach und Pillen auch noch erwachsen wird. Flüchtige Gedanken an Körperlichkeiten führen irgendwann zum ersten Sex. Immer ist Beth neugierig und getrieben, doch trotz einer unerwiderten Liebe reduziert die Serie Beth dankenswerter Weise nie auf eine Teenagerin, deren ganzes Seelenheil an einem Mann hängt. Ja, das Erwachsenwerden schmerzt – aber Beths Schmerz sitzt noch viel tiefer.
Mit aller Macht will sie Schmerz, Einsamkeit, Zurückweisung, Kindheitstrauma und die Angst vor dem Versagen und der Leere betäuben. Dabei redet sich Beth aber ein, die Drogen für ihr Schachspiel zu brauchen – durch die halluzinogenen Pillen konnte sie in ihrer Kindheit ein Schachbrett an die Decke projizieren und in Gedanken spielen. Fast zu spät entdeckt sie, dass ihr Genie nicht in den Drogen liegt, sondern in ihr. Und dass Menschen ihr vielleicht doch bessere Freunde sein können als eine Flasche.
Die vielleicht größte Leistung der Serie: Das alles wird gezeigt und nicht unnötig erklärt. Hier funktioniert das Credo „show, don’t tell“ hervorragend. Wer aufmerksam zusieht, die Mimik der Darstellerinnen und Darsteller beachtet, der bekommt extrem tiefe Einblick in das Seelenleben der Figuren, ohne dass jedes Detail in Dialogen ausgewalzt werden muss – einer von vielen Unterschieden zu „Barbaren“ übrigens.
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