„Victoria“, „Toni Erdmann“, „Systemsprenger“: Mehrfach haben es deutsche Filme in den vergangenen Jahren geschafft, über die Landesgrenzen hinaus viel Anerkennung zu bekommen. Auch abseits der weitbekannten Prestige-Spitze ist das Kino hierzulande besser und vielfältiger, als es ein Blick zu erkennen vermag, der vor allem die Publikumsrenner von Til Schweiger und „Fack Ju Göhte“-Regisseur Bora Dagtekin wahrnimmt.
Gerade junge Filmemacher tragen dazu jedes Jahr bei. 2019 etwa begeisterten uns unter anderem die freche Satire „Das melancholische Mädchen“ und die sehr persönliche Folterknast-Doku „Born In Evin“, die beide auf der Berlinale liefen, in der Sektion Perspektive Deutsches Kino, bevor sie regulär in die Kino kamen („Born In Evin“ war eine Berlinale-Premiere, „Das melancholische Mädchen“ wurde erstmals auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis kurz vorher gezeigt).
Seit 2002 hat die Berlinale mit der Perspektive Deutsches Kino einen Raum, der für die Filme junger Regisseure reserviert ist. Wobei natürlich nicht irgendwelche Erstlingswerke laufen sollen, sondern Filme, die verspielt, eigensinnig und provokant sind. 2020 gibt’s mit Carlo Chatrian einen neuen Berlinale-Programmchef, er übernahm die Leitung zusammen mit Mariette Rissenbeek von Dieter Kosslick – und machte den Chefs der Berlinale-Sektionen eine Vorgabe, die sich auch auf die Perspektive auswirkte:
Die Sektions-Leiter sollten voll hinter jedem ihrer Filme stehen. Das hat offenbar dazu geführt, dass stärker ausgesiebt wurde als zuvor. Insgesamt wurden dieses Jahr 60 Filme weniger gezeigt als 2019 (340 statt 400), in der Perspektive sind es vier weniger. Wir haben alle acht Berlinale-Premieren der Perspektive 2020 geschaut und gehen davon aus, dass ihr viele davon auch regulär im Kino zu sehen bekommen werdet.
Starke Dokus
Die Hälfte der Perspektive-Filme 2020 sind Dokus und zwei davon sind so gut, dass wir sie euch hier kurz vorstellen und ans Herz legen wollen. Bei den vier Spielfilmen finden sich interessante Ansätze, aber begeistert hat uns keiner – doch die Dokumentarfilme „Automotive“ und „Walchensee Forever“ haben jeweils einen dermaßen starken Sog! Es geht um die entmenschlichte moderne Arbeitswelt, es geht um Frauenschicksale zwischen bayrischer Tradition und polygamer Beziehung. Vor allem bei der Auswahl der Protagonistinnen gelangen den Regisseuren Jonas Heldt und Janna Ji Wonders Volltreffer!
Deinen Job macht bald eine Maschine
In „Automotive“ zeigt Regisseur Jonas Heldt zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Frauen, die beide für Audi arbeiten: Die 20-jährige Leiharbeiterin Sedanur sortiert nachts Autoteile am Fließband, die anschließend von Robotern zusammengesetzt werden. Die 33-jährige Headhunterin Eva sucht unterdessen nach neuen Mitarbeitern, die Sedanurs Job überflüssig machen sollen: Experten in Sachen Automatisierung von Fabriken.
Regisseur Jonas Heldt legt nach und nach Gegensätze und Gemeinsamkeiten zwischen Sedanur und Eva frei. So unterschiedlich ihr Habitus sein mag, so sehr werden ihre beiden Leben von Arbeit bestimmt. Wobei die große Ironie und Tragik darin besteht, dass ausgerechnet Arbeiterin Sedanur, deren Job viel unsicherer und eintöniger ist, viel mehr Spaß darin zu haben scheint als Headhunterin Eva.
Auch Eva, die permanent am Telefon hängen und potentiellen neuen Mitarbeitern nette Sachen sagen muss, gibt vor der Kamera zu verstehen, dass sie glücklich in ihrem Job sei – aber in den Zwischentönen sagt sie das Gegenteil. Zumal sie im Unterschied zu Sedanur eine Beziehung führt und sich mit ihrer Partnerin über die noch ungeklärte Kinder- und Wohnortfrage zu verständigen versucht.
Jonas Heldt zeigt die moderne Arbeitswelt in all ihrer technikgetriebenen Jobunsicherheit, entlarvt dabei Beschönigungsversuche von zu Wort kommenden Experten als Blabla und hat trotzdem keinen anklagenden Film gedreht, bei dem jemand an den Pranger gestellt würde. Der technische Fortschritt in „Automotive“ ist wie eine schleichende Naturgewalt, die uns alle langsam überrollt, während wir halt wie Sedanur und Eva weiterarbeiten, um unsere unterschiedlichen Lebensentwürfe zu verwirklichen.
Ein ganzes Jahrhundert in einem Film
Um unterschiedliche Lebensentwürfe geht es auch im anderen Sahnestück der Perspektive Deutsches Kino, dem Dokumentarfilm „Walchensee Forever“ von Janna Ji Wonders. Ausgangs- und Fixpunkt ist ein 1920 eröffnetes, familiengeführtes Ausflugscafé am hübschen bayrischen Walchensee.
Während Norma, die Tochter der Gründerin, den Betrieb jeden Tag und bis ins sehr hohe Alter führt, erleben ihre Töchter Anna (die Mutter der Regisseurin) und Frauke Abenteuer in aller Welt: Als Musikerinnen verschlägt es Anna und Frauke bis nach Mexiko. Ihre Flower-Power-getriebene Gegenbürgerlichkeit äußert sich auch darin, dass sie in der Kommune von Rainer Langhans leben.
Janna Ji Wonders zeigt die Leben ihrer Oma, ihrer Mutter und ihrer Tante bemerkenswert unmittelbar: Die Erzählungen von Mutter Anna, der Hauptinterviewpartnerin, sind sehr lebendig, angenehm bedächtig – und führen eine sich zunächst harmlos gerierende Geschichte durch einige überraschende Wendungen. Dabei greift Wonders auf einen Schatz an Archivmaterial zurück: Viele Ereignisse werden mit alten Fotos oder Filmaufnahmen bebildert.
Geduldig und präzise führt uns Janna Ji Wonders in „Walchensee Forever“ durch die Frauengeschichte ihrer Familie und erzählt damit von den unterschiedlichen Chancen, die sich den Generationen boten.
Außerdem gelang ihr ein Heimatfilm im besten Sinne: Das Zuhause am Walchensee wird weder romantisch verklärt, noch als Ort der Engstirnigkeit gebrandmarkt: Die Schwestern Anna und Frauke tragen ihre geliebten bayrischen Lieder bis über den großen Teich, wo sie ganz wunderbar ankommen.
Walchensee ForeverAlle Filmpremieren aus der Perspektive Deutsches Kino 2020 in der Übersicht:
„Automotive“ (Doku)
„Ein Fisch, der auf dem Rücken schwimmt“ (Beziehungsdrama)
„Garagenvolk“ (Doku)
„Im Feuer“ (Kriegsdrama)
„Kids Run“ (Boxer-Drama)
„Schlaf“ (Horror)
„Wagenknecht“ (Doku)
„Walchensee Forever“ (Doku)