Die Welt ist nach dem Ende von „Game Of Thrones“ nach wie vor auf der Suche nach einem Fantasy-Thronfolger. Amazons „Carnival Row“ erhebt Anspruch auf diesen Platz. Dass Guillermo del Toro sich anfangs des Projekts annahm, machte Hoffnung. Doch der Vielbeschäftigte kehrte der Serie aus Termingründen den Rücken. „Carnival Row“ wanderte daraufhin durch mehrere Hände. Und leider merkt man das.
Darum geht’s in "Carnival Row"
Den feenartigen Wesen des Landes Tir na Nog hätte kaum etwas Schlimmeres als die Begegnung mit den Menschen passieren können. Ganz Entdecker und Eroberer, fielen sie in ihre Länder ein und veranstalteten Treibjagden auf die mythischen Wesen, die gegen die Angreifer kaum eine Chance hatten. Unzählbar viele Flüchtende werden in die Menschenrepublik Burgue geschifft, wo man ihnen zumeist mit offener Feindseligkeit begegnet. Vignette Stonemoss (Cara Delevingne) ist eine von vielen Entwurzelten, die sich irgendwie durchzuschlagen versuchen, während die Menschen sie als Wesen zweiter Klasse behandeln. Vor sieben Jahren lernte sie den Soldaten Rycroft „Philo“ Philostrate (Orlando Bloom) in ihrer Heimat kennen und lieben – nur um direkt seinen vermeintlichen Tod mitzuerleben. Jetzt muss die Elfe erfahren, dass Philo mitnichten verstorben ist, sondern quicklebendig als Inspektor in Burgue arbeitet. Dort sind die Anwohner geschockt vom Beginn einer grauenerregenden Mordserie, bei der die Opfer zerfleischt und ohne Leber zurückgelassen werden.
Relevante Probleme irrelevanter Figuren
Dass „Carnival Row“ eine auf die (all)gegenwärtige Flüchtlings- und Fremdenfeindlichkeitsproblematik gemünzte Metapher ist, entgeht auch dem unbedarftesten Zuschauer nicht. Die blanke Verachtung, die den gehörnten und geflügelten Immigranten entgegenschlägt, weist überdeutliche Parallelen zur realweltlichen Gegenwart auf. In Burgue gibt es die in Dekadenz schwelgende Oberschicht, die normalen Leute, die in der Regel als Mob Gift und Galle speien, und die marginalisierte Gesellschaftsschicht der phantastischen Wesen, die entweder in Slums (wie der titelgebenden Carnival Row) ihr Dasein fristen oder den hohen Herren als Bedienstete nach dem Mund reden und dabei steif lächeln.
Gleich vorweg: Als Hauptfiguren erfüllen Philo und Vignette ihre Aufgaben nur mäßig. Delevingne nimmt man die nassforsche und häufig trotzige Elfe zwar ab, doch hat sie weder sonderlich viel zu tun, noch wird ihrem Charakter nennenswerte Tiefe zuteil. Unterhaltsamer ist Orlando Blooms Darbietung als hartgesottener, dann und wann Faustkämpfe anzettelnder Neo-Noir-Kommissar. Doch auch seine Figur bleibt letztendlich so oberflächlich wie die Beziehung zwischen den beiden Protagonisten. Die Distanz, die sie über weite Strecken zueinander zu haben scheinen, hat man als Zuschauer auch zu ihnen. Positiv sticht heraus, dass sie sich von Anfang an keine Fremden sind und „Carnival Row“ sich das allseits bekannte „Figuren lernen sich kennen“-Einmaleins spart.
Eine viktorianische Welt voller Prunk und Elend
Zum Glück ist der Erzählstrang der beiden nur einer von vielen. Und zum Glück erschöpft sich die Serie auch nicht in der simplen Ausgangssituation, sondern nutzt sie als Grundlage für emsiges Worldbuilding. Hier kommt eine Besonderheit von „Carnival Row“ zum Tragen, die man mögen muss: Nicht die Geschichte und auch nicht die Hauptfiguren schultern die Serie, sondern die multiplen, fast gleichwertigen Handlungsstränge zusammen mit dem frischen Szenario – die vielen Facetten des Ameisenhaufens von einer viktorianisch geprägten Menschenstadt.
Das Sehvergnügen ist vor allem dann groß, wenn es in das bunte Treiben der schmierigen Gassen geht. Die Lebenswelt der kleinen Leute bringt die Serie besonders anschaulich zur Geltung, wenn auch die Geschichte dort nie für lange verweilt. Kaum weniger interessant ist die andere Seite der gesellschaftlichen Medaille: Die von Etikette, Eitelkeiten und Ranküne bestimmte Scheinrealität der aufgetakelten Damen und verstockten Herren. In diesen Momenten erinnert die Serie an einen guten Kostümfilm.
Auch obligatorische Nebenplots wie der um das adelige Geschwisterpaar, bei dem der bornierte Schaumschläger von einem Bruder (Andrew Gower) das Vermögen verprasst und die Schwester (Tamzin Merchant) ihre Vorurteile abbaut, um sich von dem neureichen Fabelwesen-Außenseiter Argeus Astrayon (David Gyasi) helfen zu lassen, fühlen sich nicht nach unnötigem Füllwerk an. Diese und andere kleine Geschichten besitzen genau die richtige Länge und werden dramaturgisch sinnvoll aufgeteilt, sodass sie mosaikartig die verschiedenen Facetten einer Welt aufzeigen, die von Folge zu Folge stärker fasziniert.
Getragen wird die Serie nicht von reißerischen Wendungen, sondern vom durchdachten Setting und einer Reihe für sich einfacher Handlungsstränge, die im Verbund aber zu einer organischen Gesamtheit werden. In einer Zeit, in der fast jede Serie auf hakenschlagende Plots setzt, ist es erfrischend, dass die Folgen sich trauen, mit bestenfalls milden Cliffhangern zu enden.
Die detailverliebte Ausstattung schreit geradezu die Lust heraus, mit der man bei der Gestaltung vorgegangen sein muss. Die Kleidung, das Mobiliar, die Gebäudefronten, alles ist sorgfältig aufeinander abgestimmt. Man wünscht sich an vielen Stellen lediglich größere Außenareale, mutet die dargestellte Welt doch häufig etwas reduziert an. Auch die Effekte gehen über weite Strecken in Ordnung. Die humanoiden Fabelwesen mit ihrer Mischung aus Masken und CGI sehen toll, wenn auch nicht perfekt aus. Den (wenigen) zur Gänze animierten Monstren sieht man die Computer-Herkunft hingegen sofort an. Im Übrigen scheut „Carnival Row“ keineswegs vor deftiger Brutalität zurück, sondern ergötzt sich förmlich an den ausgeweideten Mordopfern. Diese bemühte Beteuerung, trotz flatternder Feenwesen eine erwachsene Serie zu sein, wirkt bisweilen etwas befremdlich. Mehrfache Oben-Ohne-Sexszenen mit Cara Delevingne lassen sich auch dazuzählen.
Viel Potential, aber auch Enttäuschung
Wie fantastisch „Carnival Row“ sein könnte, zeigt sich in der unvermeidlichen Rückblicksfolge, in der erzählt wird, wie Vignette und Philo sich erstmals begegneten. Diese entpuppt sich nicht wie so oft als Pflichtübung, sondern gewährt einen Blick auf die Welt jenseits des Menschenreiches. Die Streifzüge durch das geheimnisumwitterte Land atmen in jeder Minute Abenteuerlust und wecken prompt den Drang, mehr von dieser unerforschten Welt zu erfahren. Genau das bleibt dem Zuschauer in Staffel eins aber (noch) verwehrt.
Manchmal meint man aber, der Serie fehle es – trotz der langen Folgen – an Zeit. So wird eine militante Untergrundorganisation zusammen mit einem ganzen Bündel mutmaßlich interessanter Figuren vorgestellt – nur um dann nie wieder eine Rolle zu spielen. Auch ein großes Über-Übel wird verheißungsvoll angekündigt und im weiteren Verlauf dann strikt ignoriert. Diese irritierende Unart, etwas einzuführen, das für den Rest der Staffel keinerlei Bewandtnis mehr hat, tritt in „Carnival Row“ mehrmals auf.
Hinzu kommt ein entschieden zu überhastetes Ende. Gerade nachdem man sich in den sieben vorherigen Episoden so angenehm viel Zeit nahm, galoppiert man durch die letzte Stunde und scheint bisherige Erzähltugenden völlig über Bord zu werfen. Hier werden dann nicht nur ärgerlich viele Klischees bedient, sondern ausgerechnet der alles verbindende Handlungsstrang um die mysteriösen Morde entpuppt sich als schrecklich selbstzweckhafter Unsinn mit Logikschwächen, der dem Sehvergnügen rückwirkend einen herben Schlag versetzt. Besonders hier meint man zu spüren, dass nach dem Weggang von Mastermind Guillermo del Toro niemand so recht wusste, in welche Richtung die Story sich entwickeln soll.
Das Versprechen, dass es in der bereits angekündigten zweiten Staffel mehr von der weiten Welt zu sehen geben wird und bislang nur angerissene Handlungsstränge fortgeführt werden, stimmt zwar halbwegs versöhnlich, kann die Fehltritte der ersten Season aber nicht ausgleichen. In Zukunft werden die „Carnival Row“-Macher zwingend zeigen müssen, dass sie in der schönen Welt auch nachhaltig interessante Geschichten mit Substanz erzählen können. Denn es wäre wirklich schade, wenn der nette Staffel-eins-Spaziergang durch das Gewimmel der Straßen von Burgue sich schlussendlich als das ziellose Irren eines oberflächlichen Flaneurs herausstellen sollte.
Fazit
In den besten Momenten lässt „Carnival Row“ den Zuschauer in den Alltag einer Welt eintauchen, die mit ihrer organischen Vielfalt betört. In den schlechtesten Momenten läuft die Serie Gefahr, eine ebensolche Scharade der Oberflächlichkeiten zu veranstalten wie viele ihrer schnöseligen Figuren. Denn all der verheißungsvollen Einblicke zum Trotz bleibt es am Ende doch bei aussichtsreichen Andeutungen und (noch) nicht eingelösten Versprechungen.
Alle acht Folgen der ersten Staffel „Carnival Row“ können ab sofort auf Englisch (wahlweise mit deutschen Untertiteln) bei Amazon Prime Video abgerufen werden. Eine deutsche Synchronfassung folgt dann am 22. November 2019.
Amazons Fantasy-Serie "Carnival Row" bekommt eine 2. Staffel - noch bevor die erste überhaupt lief