Teenager in Horrorfilmen sind häufig unerträglich dumm und fies zueinander. Sie teilen sich auf, obwohl das nie eine gute Idee ist, vertrauen augenscheinlich gefährlichen Personen, informieren nie ihre Eltern, die ohnehin meist abwesend sind, wenn ihnen etwas Schlimmes widerfährt und bilden in der Regel Grüppchen, die aus einem schönen Alpha-Männchen, dem Nerd, dem blonden Dummchen, das immer feiern will, dem Angehörigen einer Minderheit und einer meist weiblichen und stets vernünftigen Jungfrau. Und auf den ersten Blick sieht es ganz so aus, als würde auch „Ma – Sie sieht alles“ all diese Klischees voll bedienen:
Als die junge Maggie (Diana Silvers) auf eine neue Schule kommt, wird sie erstaunlich schnell Teil einer Gruppe, die aus der extrovertierten Blondine Haley (McKaley Miller), ihrem muskulösen Freund Chaz (Gianni Paolo) sowie Andy (Corey Fogelmanis) und dem Darrell (Dante Brown) besteht. Schon am ersten Schultag wird die Neue von der Gruppe zum Feiern eingeladen. Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass damit hauptsächlich gemeint ist, sich zu betrinken. Als ihnen die fremde Frau mittleren Alters Sue Ann alias „Ma“ (Octavia Spencer) fast schon verdächtig freundlich anbietet, dass sie es sich in ihrem Keller gemütlich machen können, nehmen sie das Angebot an, ohne es weiter zu hinterfragen. Soweit klingt alles noch nach einem einzigen Klischee. Aber in vielerlei Hinsicht bricht Regisseur Tate Taylor immer wieder mit den Stereotypen von Teenie-Horrorfilmen. Denn die Jugendlichen sind ausnahmsweise mal freundlich und trotz Gedankenlosigkeit nicht strohdumm.
Achtung: Ab hier gibt es Spoiler zu „Ma – Sie sieht alles“
Nette pubertierende Jugendliche
Als Maggie beginnt, sich im Laufe der Zeit in Anwesenheit von Sue Ann unwohl zu fühlen, entscheidet sie sich, nicht mehr zu Ma zu gehen. Außerdem bittet sie ihren Freund Andy, das Haus ebenfalls nicht mehr aufzusuchen und warnt auch Haley, die sogleich ihre Mitschüler via Social Media anhält, sich fernzuhalten. Mit der Videobotschaft „Diese Bitch ist verrückt!“ löst Haley das Problem zwar sehr pubertär und betritt das Haus im Endeffekt erneut, doch immerhin nimmt sie ihre Freundin im ersten Moment ernst. Erwartet haben viele Zuschauer hier wohl eher gewohnheitsgemäß, dass Haley Maggies Sorgen nur ein müdes Lächeln schenkt.
Die Jugendlichen wollen ihren Spaß haben und sich ausprobieren, doch schließen sie niemanden aus oder strafen gleich mit Häme, wenn jemand nicht mitmachen möchte. So wird kommentarlos hingenommen, dass Andy vernünftigerweise keinen Alkohol trinkt, weil er am Steuer ist. In anderen Teenie-Horrorfilmen wäre er wohl der nerdige Typ, der nur „mitmachen“ darf, um die coolen Leute herumzukutschieren. In „Ma“ kommt er stattdessen auf sehr unschuldige Weise mit Maggie zusammen, ohne dass die Teenager ein großes Ding aus der Beziehung machen. Insgesamt geht die Truppe angenehm respektvoll und freundlich miteinander um, ohne ungewöhnlich erwachsen für ihr jugendliches Alter zu wirken.
Kein Mobbing
Die Pastoren-Tochter, die auf Feiern vorgibt, vom Trinken ausgeknockt zu sein und zu schlafen, wird einfach als Teil der Party-Gemeinschaft akzeptiert. Es gibt den gesamten Film über keine Figur, die von den Teenagern gehänselt wird. Diese Entscheidung trafen die Macher wohl bewusst – immerhin geht es in „Ma“ vor allem um die Konsequenzen von Mobbing. So sind es schließlich die nie verarbeiteten Erniedrigungen von früher, die Sue Anns Boshaftigkeit auslösen.
Maggie, Haley, Andy, Chaz und Darrell sind – im Gegensatz zu ihren Eltern früher – freundlich zu Sue Ann und verzeihen ihr ihre erste Aufdringlichkeit, als diese ihnen entschuldigend vorlügt, sie habe Krebs. Die Jugendlichen bekommen gar ein schlechtes Gewissen, die anscheinend kranke Frau alleine zu lassen. Die Teenies sind also nicht nur nicht dumm, sondern auch keineswegs herzlos und angenehm tolerant gegenüber anderen.
Sorgende Eltern
Maggie ist ab einer gewissen Stelle im Film gezwungen, ihrer Mutter Erica (Juliette Lewis) zu erzählen, was sie bisher mit ihren neuen Freunden getrieben hat und wo sie war, woraufhin Erica ihre alte Schulkameradin Sue Ann unmissverständlich deutlich macht, was sie von ihrer „Hilfsbereitschaft“ hält. Auch Andys Vater Ben (Luke Evans) findet es unangebracht, dass sein minderjähriger Sohn Zeit in Sue Anns Haus verbringt und verweist die Frau mittleren Alters daraufhin in die Schranken. Das kommt im Film sehr plötzlich und unerwartet, ist dafür aber umso stärker. Die Eltern sorgen sich in „Ma“ also tatsächlich um ihre Kinder und sind nicht, wie in anderen Teenie-Horrorsteifen, abwesend oder vollkommen ahnungslos.
Auch der Polizist (gespielt von Regisseur Tate Taylor), der Sue Anns Haus aufsucht, ist nicht auf den Kopf gefallen. Als ihm eine nervöse Ma die Tür öffnet, nimmt er eine seltsame Atmosphäre wahr und will handeln, wird allerdings schnell ermordet. In vergleichbaren Filmen wäre der Polizist, ohne auch nur das Geringste zu bemerken, wohl tatenlos wieder verschwunden.
Einige Klischees bleiben aber
„Ma“ ist trotz einiger erfrischend positiver Eigenschaften der Teenager nicht vollkommen frei von Teenie-Horrorfilm-Klischees. So ist die Rollenverteilung innerhalb der Truppe doch stereotyp: Es gibt unter anderem einen weißen muskulösen Kerl, eine blonde aufgedrehte Freundin und einen austauschbaren Schwarzen. Und obwohl die Jugendlichen nicht unerträglich dumm sind, sind einige Handlungen letzten Endes dennoch schwer nachzuvollziehen.
Warum finden die Teenager es zum Beispiel nicht seltsam, wenn eine alleinstehende Frau mittleren Alters so viel Zeit mit ihnen verbringen will, ihnen Alkohol kauft und ihnen einen Partykeller herrichtet? Die Antwort liegt aber klar auf der Hand: Es gäbe sonst natürlich keinen solchen Film.
„Ma - Sie sieht alles“ läuft seit dem 30. Mai 2019 in den deutschen Kinos.
Horrorfilm "Ma": Darum wurde die Hautfarbe der Hauptfigur geändert