Schon relativ früh in der ersten Episode von „Marvel’s The Punisher“ zerstört Frank Castle (Jon Bernthal) sein berühmtes Comic-Buch-Outfit mit dem Totenschädel. Dieser Akt hat nicht nur eine erzählerische Funktion, sondern ist auch ein Symbol der Macher der Serie um Chefautor Steve Lightfoot („Hannibal“, „Narcos“): „The Punisher“ ist nicht die typische Comic-Adaption. Man ist sich der Wurzeln bewusst, bleibt diesen treu, distanziert sich aber auch von dem Ursprung – und auch von der Einbindung in Marvels bisheriges Universum. Damit landet man einen Volltreffer. Die höchst brutale Serie liefert die mit Abstand bisher beste Interpretation der Figur – auch weil man es schafft, Unterhaltung auf kritischem Abstand zu präsentieren.
Er dachte, er hat alle ausgelöscht: Mexikanisches Drogenkartell, Biker-Gangs und den irischen Clan – wer etwas mit der Ermordung von Frank Castles Familie zu tun hatte, ist tot. Unter neuem Namen führt der von aller Welt für tot gehaltene Ex-Elitesoldat ein neues Leben als zurückgezogener Einzelgänger. Doch nach sechs Monaten wird er aufgespürt: Hacker Micro (Ebon Moss-Bachrach) eröffnet Frank, dass eine viel größere Verschwörung hinter der Tat auf seiner Familie steckt. Parallel verfolgt die aus Afghanistan zurückgekehrte Homeland-Security-Agentin Dinah Madani (Amber Rose Revah) gegen den Willen ihrer Vorgesetzten eine eigene Ermittlung: Ein Polizist wurde ermordet, weil er aufdeckte, dass US-Soldaten im großen Stil Heroin aus dem Kriegsgebiet schmuggeln. Die einzige Spur ist ihr Wissen um eine geheime Killereinheit. Mitglied dieser Gruppe war Frank Castle…
Eine brutale Geschichte
Wenn Netflix eine neue Serie herausbringt, werden uns Kritikern meist nur die ersten zwei bis drei Episoden zur Verfügung gestellt. In Fällen wie „Stranger Things“ will man damit offensichtlich auch verhindern, dass entscheidende Plot-Entwicklungen zu früh an die Öffentlichkeit kommen, als Kritiker kommt man nicht umhin, teilweise auch andere Gründe dahinter zu vermuten. Bei „Marvel’s The Defenders“ konnten wir so – durchaus ungewöhnlich – bereits die ersten vier Episoden sehen, die einen langsamen Spannungsaufbau präsentieren und deren Abschluss große Hoffnung für die übrigen vier Folgen machte. Was folgte, war eine große Enttäuschung, doch gerade aufgrund der vierten Folge fielen die meisten Vorabeindrücke – so auch unserer – eher positiv-optimistisch aus.
Bei „The Punisher“ stellte Netflix nun Kritikern alle (!) 13 Episoden zur Verfügung, was auch zeigt, wie überzeugt man von seinem Produkt ist. Zu Recht! Es unterstreicht aber auch, dass es eine andere Serie ist. Obwohl man zum einen einen klassischen Episodenaufbau hat, einzelne Episoden gerne auch mal mit einem Cliffhanger oder einer Enthüllung enden, fühlt sich die gesamte Serie doch wie eine große Erzählung an, die man unbedingt als Ganzes betrachten muss. Die Geschichte wird dabei langsam aufgebaut, was man aber nicht mit langweilig verwechseln darf. Denn die Spannung wird durchweg hochgehalten. Dabei werden innerhalb der Erzählung mit ihren sehr vielen Nebenhandlungssträngen die höchst brutalen Actionsequenzen zudem so platziert, dass man in jeder Episode eine hat, was natürlich dafür sorgt, dass sich keine Langeweile einstellt.
Bruch mit Marvels bisherigen Netflix-Serien
Dass Jon Bernthal ein passender Darsteller für den Punisher sein kann, zeigte sich schon in der zweiten Staffel von „Daredevil“. Dort taten ihm die Drehbuchautoren aber keinen Gefallen und die komplette Auseinandersetzung mit seiner Figur wurde in den völlig missratenen finalen Episoden für die Haupthandlung geopfert, als er nur noch Mittel zum Zweck war, um die scheinbar höhere moralische Integrität des Teufels von Hell’s Kitchen zu wahren. Man wird in „The Punisher“ den Eindruck nicht los, als wolle man das nun korrigieren. Dass fängt schon damit an, dass die Serie quasi mit dem bisherigen Universum bricht.
Klar spielen die Geschehnisse in der zweiten Staffel von „Daredevil“ eine Rolle, doch man müsste sie nicht einmal kennen. Alles Wichtige wird in dieser Serie präsentiert, die so komplett für sich alleine stehen und ohne jegliches Vorwissen geschaut werden kann. Verweise auf die übrigen Helden gibt es überhaupt nicht. Die Existenz von Superhelden wird nie erwähnt, kostümiert wie eine Comic-Buch-Figur ist hier zudem niemand. Und die Crossover-Elemente beschränken sich auf die Journalistin Karen Page (Deborah Ann Woll) oder kleinste Nebenfiguren wie den Waffenhändler Turk (Rob Morgan) – alle aber so eingebaut, dass man ihre bisherige Vergangenheit nicht kennen muss.
Eine Serie im Hier und Jetzt
Vor allem finden die Macher aber einen grandiosen Mittelweg für ihren Umgang mit der Figur. Der Punisher begeht mit automatischen Waffen Selbstjustiz, macht keine Gefangenen, tötet nicht nur, sondern foltert auch – ein nicht nur in der heutigen Zeit problematischer Held. In vielen Comics oder bisherigen Filmadaptionen setzte man daher unter anderem auf die totale Überhöhung, schob die Geschichte ins Pulpige, raus aus dieser Welt. In der zweiten Staffel von „Daredevil“ schien es lange Zeit so, als würde man einen kritischeren Umgang wählen, wofür am Ende aber kein Raum blieb, weil es der Hauptgeschichte nicht dienlich war.
Die neue Serie holt den Punisher nun explizit in unsere Welt, der sogenannte „Homegrown-Terror“, also die Attentate von Amerikanern in Amerika, schwingen deutlich mit. Als am 1. Oktober 2017 ein Amokläufer in Las Vegas ein Massaker anrichtete, wurde danach eine „Punisher“-Preview auf einem Comic-Festival abgesagt. Das ist völlig verständlich und wenn man nicht wüsste, dass die Serie zu diesem Zeitpunkt längst fertiggestellt war, könnte man einzelne Sequenzen sogar als Reaktion auf diese Tat sehen.
Traumatisierte Veteranen
Die Zeichnung des problematischen Hauptcharakters wird durch die vielen Nebenhandlungsstränge rund um andere Veteranen gefördert, die vielleicht am Anfang das Tempo etwas ausbremsen, deren Bedeutung aber früh offensichtlich ist. Da gibt es Curtis (Jason R. Moore), der in seiner Selbsthilfegruppe für Veteranen versucht, einen Weg zurück in die Gesellschaft aufzuzeigen. Daneben spielt der Brite Ben Barnes („Die Chroniken von Narnia: Prinz Kaspian von Narnia“), der wie Ebon Moss-Bachrach („Girls“) oder Amber Rose Revah („Emerald City“) perfekt besetzt ist, Franks gutaussehenden, Comic-Lesern vertrauten Ex-Kameraden Billy Russo, der scheinbar als einziger den Absprung geschafft hat und nun ein florierendes Unternehmen leitet.
Und dann gibt es vor allem den völlig verbitterten Mittzwanziger Lewis Walcott (Daniel Webber), der im Krieg getötet hat und sich nun in seiner Heimat für überflüssig hält und immer frustrierter wird. Wohin sein Handlungsstrang steuert, ist zwar früh zu erahnen und natürlich ist er vor allem ein Mittel, um die Lage für die Hauptfigur zu verkomplizieren. Doch durch ihn wird noch einmal verdeutlicht, wie schmal der Unterschied zwischen den Taten von Frank und denen eines Psychopathen und Terroristen ist – wenn er überhaupt vorhanden ist. Gerade mit diesen Strängen, wird „The Punisher“ zusätzlich als brandaktuelle Serie platziert.
Die andere Seite des Punishers
Natürlich dekonstruieren die Macher ihre Hauptfigur nicht völlig – schließlich bleibt Frank Castle die Person, mit der man mitfiebern soll, dem man wünschen soll, dass er die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit ausmerzen kann. Hier kommt vor allem Jon Bernthals großes Talent zum Tragen. Der unter anderem aus „The Walking Dead“ und „Baby Driver“ bekannte Schauspieler ist nicht nur die stoisch-grimmige und wortwörtlich grunzende Killermaschine, sondern darf auch immer wieder den weichen Kern hinter der harten Schale aufblitzen lassen. Dies zeigt sich unter anderem in den stetigen Flashbacks an seine Zeit mit der Familie, Erinnerungen, die ihn verfolgen, ihn jagen.
Noch besser wird ein Nebenhandlungsstrang um die Frau und Kinder von Micro genutzt, die menschliche Seite Castles zu offenbaren. Die Familie denkt, dass der Hacker tot ist. Er lässt sie im Glauben daran, um sie davor zu schützen, ermordet zu werden. Doch Frank Castle selbst ist in das Leben der Familie getreten. In ihrer Gegenwart ist er Pete Castiglione (der Name ist ein kleines Easter-Egg für Comic-Fans) und nicht der Punisher. Er kann seine menschliche Seite zeigen. Ein neuer verständnisvoller Mann, eine mögliche Vaterfigur – man ahnt schnell, in welche Richtung das Ganze sich bewegt. Zusätzlich zur Humanisierung der Killermaschine spielen die Macher so geschickt mit einem möglichen Konflikt am Horizont, zumal Micro das Haus der Familie mit Überwachungskameras ausgestattet hat und aus seinem Versteck alles beobachtet.
Ego-Shooter und Co.: Die Inszenierung
Die Beobachterperspektive von Micro ist einer von mehreren inszenatorischen Kniffs, die in „The Punisher“ nicht ohne Grund eingesetzt werden. In einer weiteren Episode sehen wir große Teile einer Actionsequenz aus einer Ego-Shooter-Perspektive, was wie so vieles gleich in mehrfacher Hinsicht ein erstklassiges Stilmittel ist. Es verleiht dem unglaublich brutalen Geschehen zum einen eine schockierende Unmittelbarkeit, wenn man die Perspektive der Person einnimmt, deren Kopf gerade weggeschossen oder die erstochen wird. Zum anderen portraitiert es mehr als jeder Dialog den mächtigen Strippenzieher im Hintergrund, der seine Mannen ins Feld schickt, um für ihn die Drecksarbeit zu erledigen und für den sie nur Kanonenfutter sind, Computerspielfiguren, die er kontrolliert und von denen er immer neue schicken kann.
Gleich für mehrere Episoden wird so ein jeweils eigener Stil gefunden. So gibt es gen Ende eine Folge, in der ein und dasselbe Geschehen immer wieder aus verschiedenen Perspektiven geschildert wird und natürlich unterschiedliche Beschreibungen der Ereignisse erfolgen. Dies dient gar nicht dazu, die fünf Minuten Geschehen auf eine Episode von über 50 Minuten zu strecken, sondern es wird damit wiederum eine Menge über die Figuren erzählt und vor allem auch unterstreichen die Autoren damit noch einmal ihren Punkt, wie man mit unterschiedlicher Wahrnehmung die Taten von Frank Castle sehr verschieden einordnen kann.
Badass-Action
Eine besondere Stärke von „The Punisher“ ist es, dass die Macher es dem Zuschauer offenlassen, ihre Gedanken aus der Serie zu ziehen. Die aktuelle politische Lage in den USA, der kontroverse Umgang mit den Waffengesetzen sind da, werden dem Zuschauer aber nicht aufgedrängt. Und obwohl der liberale Politiker, der sich klar gegen die Waffengesetze positioniert, alles andere als positiv portraitiert wird, beziehen die Macher keine Stellung – die rechte NRA-Seite steht nicht besser da. Vor allem ist diese Thematik aber nun ein – zwar dauerpräsentes, aber auf Wunsch auch ausblendbares – Hintergrundrauschen. Im Vordergrund ist „The Punisher“ genau die Badass-Actionserie, die sich viele Fans erhofft haben.
Es gibt zahlreiche starke Actionsequenzen – von einer frühen Autoverfolgungsjagd über Shootouts und Scharfschützeneinsätze bis hin zu Messer- und Faustkämpfen. Dabei ist „The Punisher“ nichts für zarte Gemüter. Selten war eine Serie brutaler, nichts wird beschönigt. Aus nächster Nähe werden Kopfschüsse verteilt und Kehlen durchschlitzt, wenn mit dem Messer zugestochen wird, ist das nie ein sauberer Stich, sondern es wird auf den Gegenüber regelrecht eingehackt. Blut fließt in Strömen, bei einigen Folterszenen werden Grenzen ausgelotet. Die Gewalt ist aber nie Selbstzweck, es geht nie um die Befriedigung eines Voyeurismus, es zeigt einfach nur die schonungslose Brutalität dieser Welt … und ist so eine weitere Verdeutlichung, dass der Punisher kein strahlender Held ist.
Fazit
„The Punisher“ ist sicher nicht frei von Schwächen und wie so oft bei Netflix beginnt das Geschehen etwas langsamer, doch es ist die bislang stärkste Zusammenarbeit des Streamingdienstes mit Comic-Gigant Marvel – auch weil es sich überhaupt nicht mehr wie eine Comic- oder eine Marvel-Serie anfühlt, sondern mehr wie ein brutales Inferno mit vielen lohnenswerten Nebenhandlungssträngen, starken Schauspielern und dem Raum für eine kritische Auseinandersetzung.