In seinem meisterhaften Kriegsepos „Dunkirk“ schildert Christopher Nolan („Insomnia - Schlaflos“, „Prestige - Die Meister der Magie“) die Schlacht von Dünkirchen, bei der mehr als 300.000 alliierte Soldaten gerade noch rechtzeitig von einem französischen Strand evakuiert werden konnten, bevor sie endgültig von der heranrückenden deutschen Armee eingekesselt wurden, parallel aus drei verschiedenen Perspektiven: vom Land, vom Wasser und aus der Luft.
DunkirkObwohl die drei Handlungsstränge parallel angeordnet sind und sich auch gegenseitig überschneiden, sodass man als Zuschauer zwangsläufig das Gefühl bekommt, die Dinge würden alle mehr oder weniger gleichzeitig ablaufen, sind die geschilderten Zeiträume in Wahrheit extrem unterschiedlich: Während die Soldaten am Strand eine ganze Woche auf ihre Rettung warten, brauchen die Schiffe nur einen Tag von der britischen bis zur französischen Küste und die zur Unterstützung losgeschickten Kampfflugzeuge benötigen sogar nur eine knappe Stunde für die Strecke.
Diese dramaturgische Entscheidung hat zunächst einmal einen ganz handfesten Grund: Die vermeintliche Gleichzeitigkeit der Ereignisse trägt ungemein zur nie nachlassenden Intensität des Films bei. Mit einer Spielzeit von nur 106 Minuten ist „Dunkirk“ sowohl für einen Kriegsfilm als auch für einen Christopher-Nolan-Film überraschend kurz – aber dafür ist jede einzelne Minute auch dank der Parallelität der Handlungsstränge mit Spannungsmomenten regelrecht vollgestopft.
Wie das Ticken einer Uhr zum Soundtrack wurde: Das FILMSTARTS-Interview zu "Dunkirk" mit Christopher NolanZugleich verdeutlichen die unterschiedlichen Handlungszeiträume aber auch, wie verschieden Soldaten im Krieg eigentlich Zeit wahrnehmen: Während die festsitzenden Infanteristen kaum etwas anderes tun können, als auf ihre Rettung bzw. die nächste Bomberattacke zu warten, geht es für die Piloten wie Farrier (Tom Hardy) ständig um Sekundenbruchteile, wenn sie sich in Luftschlachten mit ihren deutschen Konkurrenzen messen. Für die einen ist Krieg wie das Warten auf die Bahn, für die anderen wie das Spielen eines Action-Games – und beides kann gleich tödlich sein.
Zeitexperimente von „Memento“ bis „Dunkirk“
Ein solches sich gegenseitig ergänzendes Nebeneinander von dramaturgischen und inhaltlichen Gründen für das Experimentieren mit Zeit ist für Nolan übrigens alles andere als neu – ganz im Gegenteil: Eine auffällige Faszination für Zeit und wie unterschiedlich wir sie wahrnehmen zieht sich leicht erkennbar durch die gesamte Filmografie des „The Dark Knight“-Regisseurs.
Schon in seinem zweiten Film „Memento“ beschäftigt sich Nolan mit der subjektiven Wahrnehmung von Zeit, insbesondere der Zeit, die bereits vergangen ist. Aufgrund einer traumatischen Störung kann sich Protagonist Lenny (Guy Pearce) immer nur an die letzten fünf Minuten erinnern. Manchmal vergisst er deshalb mitten im Satz, mit wem er sich da überhaupt unterhält. In solchen Momenten sind die Zuschauer genauso verwirrt wie Lenny selbst, denn was er bereits wieder vergessen hat, muss ihnen erst noch gezeigt werden. Der Großteil der Handlung verläuft nämlich - ähnlich wie in Gaspar Noés „Irreversibel“ – „rückwärts“, die Szenen folgen also in umgekehrter Reihenfolge aufeinander.
Wenn man sich den Film hingegen in einer chronologisch geschnittenen Fassung ansieht (befindet sich im Bonusmaterial der DVD), wird erst richtig deutlich, wie stark die Bindung an die Perspektive Lennys und die eigentümliche Rückwärtserzählung die Wahrnehmung des Films bestimmen. In der chronologischen Version liegen die Motivationen der Figuren offen und das Mystery-Element verschwindet vollkommen, aber auch die Sympathien sind anders verteilt und der eigentliche Höhe- und Wendepunkt des Films passiert schon zur Mitte der Laufzeit. Es mag hier alles übersichtlicher und klarer sein, aber keineswegs besser, denn die Emotionalität und die Orientierungslosigkeit des Originals sind seine eigentliche Essenz. Dass zugleich auch der finale Twist wegfällt, spielt da sogar nur eine untergeordnete Rolle.
Noch deutlichere Gemeinsamkeiten mit „Dunkirk“ und dessen Darstellung von Zeit haben dann „Inception“ und „Interstellar“. Während sich Nolan in „Memento“ mit der Rekonstruktion der Vergangenheit befasst, geht es in „Inception“ ganz konkret um das gegenwärtige Erleben von Zeit. Wenn Gentleman-Gauner Dom Cobb (Leonardo DiCaprio) und seine Crew in die Psyche ihrer Opfer eintauchen, können sie dort gefühlt mehrere Stunden verbringen, obwohl in der echten Welt nur ein kurzer Augenblick vergeht. Das Szenario basiert auf der Annahme, dass die Zeit für den Schlafenden im Traum wesentlich langsamer voranschreitet als in der Realität. Nolan wendet dies auf seinen Film an und denkt es dort konsequent weiter: Je tiefer Cobb ins Unterbewusstsein eintaucht, desto länger werden gleichsam die Sekunden.
Umgekehrt ergeht es Matthew McConaughey in „Interstellar“. In seinem Science-Fiction-Epos behandelt Nolan speziell das Phänomen der Zeitdilatation, also der Dehnung von Zeit. Diese Theorie besagt, dass die Gravitationsverhältnisse zusammen mit der Geschwindigkeit eines Objektes die Ablaufzeit eines Vorgangs beeinflussen. Das heißt nichts anderes, als dass ein und dasselbe Phänomen an unterschiedlichen Punkten in der Galaxis unterschiedlich lange dauern kann. Es gibt keine universell gültige Zeit, sondern sie ist tatsächlich relativ.
Das bekommt McConaughey in „Interstellar“ am eigenen Leib zu spüren: Während er auf seiner Weltraum-Mission nicht sichtlich altert, vergehen für seine Kinder auf der Erde mehrere Dekaden. Immer wieder wechselt Nolan zwischen den verschiedenen Welten der Figuren und illustriert so nicht nur die Gesetze der Physik, sondern auch ihre mitunter herzzerreißend tragischen Konsequenzen.