Große Menschlichkeit
Kinderfilme werden ja durch den pädagogischen Anspruch, der auf ihnen lastet, auch gerne mal erdrückt. Je mehr ein Film dann versucht, ein bestimmtes Thema oder eine spezielle Problemstellung ins Zentrum zu rücken, desto hölzerner und gestellter gerät er: Weil er nämlich nicht mehr primär eine Geschichte erzählt, sondern vor allem als Vehikel für eine Moral von der Geschicht' dient. Dabei ist das Leben doch viel komplexer und lässt sich nicht so leicht auf eine simple Lehre reduzieren – und ein guter Film lässt sich auf diese Komplexität auch ein und erreicht so eine tiefe Menschlichkeit. Ein solch guter Film ist nun „Auf Augenhöhe“.
Der zehnjährige Waisenjunge Michi (Luis Vorbach) erfährt eher zufällig, dass sein Vater Tom (Jordan Prentice) noch lebt, kommt dann aber zunächst überhaupt nicht damit klar, dass Tom kleinwüchsig ist... Mit diesem Plot hätte aus „Auf Augenhöhe“ leicht ein Rührstück mit viel Schmalz werden können, eine übermäßig bemühte Schnulze um Diskriminierung und Integration. Stattdessen haben sich Evi Goldbrunner und Joachim Dollhopf (Drehbuch und Regie) zum Glück dazu entschieden, die Geschichte von Vater und Sohn zu erzählen – nicht reduziert auf eine einfache Moral, sondern mit all ihren Konflikten, Brüchen und Widersprüchlichkeiten.
Michi ist als Heimkind keineswegs unschuldig und lieb. Außerdem will er zunächst gar nichts mit seinem wiedergefundenen Vater zu tun haben – und nutzt ihn dann ganz egoistisch aus, als er ein Ticket raus aus dem Heim braucht, weil er dort von den älteren Kindern drangsaliert wird. Gleichzeitig verleugnet er seinen Vater gegenüber neuen Freunden, weil er sich für dessen Kleinwüchsigkeit schämt. Tom wiederum nimmt diese Demütigungen anscheinend hin, weil er Michis Mutter sehr geliebt hat – und vor allem selbst noch nicht weiß, wie er mit seinem plötzlich aufgetauchten Sohn eigentlich umgehen soll.
Aus dieser Konstellation ergibt sich eine große Bandbreite an Konflikten und Problemen – mit Toms Freunden aus dem Ruderklub, Michis Klassenkameraden und dem Jugendamt. Dabei trauen sich die Macher, viele der Ambivalenzen einfach für sich stehenzulassen: Nicht alle Probleme werden zum Schluss aufgelöst, selbst wenn „Auf Augenhöhe“ mit einem kinderfreundlichen Happy End schließt. Michi ist oft ungerecht und feige, Tom verletzt und ungerecht. Trotzdem finden sie zusammen – und am Ende des Films ist ihre Verwandtschaft gar nicht mehr der Hauptgrund, der sie aneinander bindet. So ticken Menschen – und dieser Film schafft es, bis in die Nebenrollen hinein komplexe Charaktere mit nachvollziehbaren Intentionen zu präsentieren.
Dass mit dem Publikum dabei auf Augenhöhe verhandelt wird, ist bei diesem Filmtitel gewissermaßen Ehrensache: Von Michis anhaltender Trauer über den Tod seiner Mutter bis hin zu Toms sehr erwachsen kontrolliertem Zorn über die Art, wie Michi ihn auszunutzen versucht – all das ist für Kinder auch ohne Vereinfachungen allein aus Spiel und Dialogen heraus absolut nachvollziehbar. Und darin steckt vielleicht auch der einzig wirklich pädagogische Impetus des Films: Dass er uns vorführt, wie sehr offene Gespräche dazu beitragen, dass wir einander verstehen.
Rochus Wolff, Jahrgang 1973, ist freier Journalist und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Grundschulalter in Berlin. Sein Arbeitsschwerpunkt ist der Kinder- und Jugendfilm; seit Januar 2013 hält er in dem von ihm gegründeten Kinderfilmblog nach dem schönen, guten und wahren Kinderkino Ausschau.