Deine Welt sind die Berge
Selbst wer noch nie in den Bergen war, der kennt doch zumindest sie - das womöglich bekannteste Exportprodukt der Eidgenossen noch vor Kräuterbonbons: Johanna Spyris Romanheldin Heidi. Heutige Eltern sind ja nicht mehr unbedingt mit den Erzählungen der Autorin selbst aufgewachsen, sondern eher mit der Zeichentrickserie aus den 1970er Jahren (von der viele später überrascht erfuhren, dass sie trotz Alpenpanorama aus Japan stammt). Auf die Idee könnte man bei der Neuverfilmung von Alain Gsponer hingegen gar nicht kommen: Die schweizerisch-deutsche Koproduktion bemüht sich in jeder Hinsicht um Nähe zur Originalgeschichte. Das merkt man schon an der Sprache: In den Alpen wird Dialekt gesprochen, wenn auch – deutsche Kinder sollen ja eine Chance haben zu verstehen, worum es geht – kein reines Schweizerdeutsch.
Den Kern der Geschichte muss man wahrscheinlich kaum noch jemandem erzählen: Das Waisenkind Heidi (Anuk Steffen) wird zu ihrem Großvater geschickt, dem „Alpoehi“ (Bruno Ganz), der sie zunächst nur widerwillig aufnimmt. In der Freiheit des Berglebens aber blüht Heidi auf: Im Sommer zieht sie täglich mit dem Geissenpeter (Quirin Agrippi) und den Ziegen den Berg hinauf. Aber dann holt ihre Tante Heidi wieder ab, denn das Mädchen soll nun der gelähmten Klara (Isabelle Ottmann) in Frankfurt am Main eine Gefährtin sein. So erlernt Heidi zwar das Lesen, geht dafür aber fast am Heimweh zugrunde – und erst zurück in den Schweizer Alpen wird endlich wieder alles gut… Die neue Verfilmung fasst die beiden Romane „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ und „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“ in - vor allem im zweiten Teil - recht geraffter Form zusammen.
Bei einem Heidi-Film besteht natürlich immer die Gefahr, dass er – auch wegen der stellenweise recht betulichen Vorlage – in Nostalgie- bzw. Heimatfilmkitsch versinkt. Aber die Natur, so toll sie hier auch in wunderschönen Aufnahmen eingefangenen wird, erhält in „Heidi“ zum Glück eben keine irgendwie national-politische Grundierung. Sie mag ein besserer Ort zum Leben sein, sie leuchtet auch etwas übernatürlich (der Winter ist kurz, der Sommer lang), aber kitschig sind die Bilder trotzdem nie. Regisseur Gsponer interessiert sich eben doch mehr dafür, was mit den Menschen geschieht, wie sie miteinander umgehen. Das unterstützen auch die Schauspieler, allen voran Bruno Ganz als zunächst barscher, später wortkarg-zärtlicher Alpoehi, der den Film in einer unmittelbaren Menschlichkeit erdet, die perfekt zum einfachen Leben in Graubünden passt. Die christlich-religiöse Bildungsgeschichte, die in den Bücher eine große Rolle spielt, ist in dieser modernen Fassung ebenso weggefallen wie einige der ironischen Spitzen – etwa gegen die exaltierte, akademisch-verschrobene Sprechweise des Frankfurter Hauslehrers. Das nimmt dem Film zwar etwas von seinen historischen Hintergründen, erlaubt es Gsponer aber, sich neben den Naturaufnahmen noch mehr auf die kleinen zwischenmenschlichen Momente zu konzentrieren.
Dazu passt es, dass der Film nicht einen einzelnen Spannungsbogen über die 111 Minuten zieht – gerade für Kinder ist das gar kein Nachteil. So bleibt mehr Muße für die kleinen Anekdoten in der Geschichte; und ältere Kinder werden sich an einer gelungenen, behutsam modernisierten Verfilmung erfreuen, die der Vorlage nie sklavisch ergeben ist. Dazu gehört auch ein rundum positives Ende – denn „Heidi“ will nach wie vor keine historisch-kritische Reportage sein, sondern eine abenteuerliche Geschichte aus den Bergen, für Groß und Klein.
Rochus Wolff, Jahrgang 1973, ist freier Journalist und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Grundschulalter in Berlin. Sein Arbeitsschwerpunkt ist der Kinder- und Jugendfilm; seit Januar 2013 hält er in dem von ihm gegründeten Kinderfilmblog nach dem schönen, guten und wahren Kinderkino Ausschau.