Es ist mittlerweile Usus. Nach großen Premieren, wie sie auf Filmfestivals traditionell stattfinden, gibt es via Twitter sofort nach dem Ende die ersten Meinungen aus dem Publikum. Während sich viele Fans über solche erste Eindrücke freuen, gibt es auch viele, die beklagen, dass dies eine krasse Aufteilung in Lobhudelei und Verriss ohne Begründungen fördere, es nur noch Schwarz und Weiß und keine Grauzonen mehr gebe. In dieses Horn stößt nun Thierry Fremaux, der Chef der Filmfestspiele von Cannes.
Die Ausgabe 2015 sei das erste wirkliche „Twitter-Festival“ gewesen, so Fremaux gegenüber dem französischen Branchenmagazin Le Film Francais. Alle Journalisten hätten plötzlich beschlossen, auszuposaunen, was ihnen zuerst durch den Kopf geschossen sei. So sei ein permanenter Kampf gegen die Uhr zwischen richtigen Journalisten und Amateur-Kritiken entstanden.
Für Fremaux leidet darunter die Filmkritik und auch das Festival: „Eine Kritik zu schreiben, besteht daraus einen Gedanken auszuformulieren und niederzulegen. Das kann nicht mit 140 Zeichen geschehen, die sofort geschrieben werden, wenn gerade der Abspann begonnen hat.“ Der gesamte Geist des Festivals leide darunter, führte Fremaux noch etwas nebulös weiter aus.
Was er damit genau meint, bleibt offen. Es ist aber zu vermuten, dass er unter anderem auf die Berichterstattung zu „The Sea Of Trees“ anspielt. Vor allem über soziale Netzwerke machte zuerst die Runde, dass der Film in Cannes ausgebuht wurde, wobei in den 140 Zeichen oftmals unterschlagen wurde, dass es die Buh-Rufe nur bei einer Pressevorführung und nicht bei der Premiere gab und in diesen Twitter-Posts auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Film fehlte. Schon direkt im Anschluss wurde in mehreren Kommentaren in Branchenmagazinen beklagt, dass nun das Drama von Gus Van Sant einen Stempel aufgedrückt bekommen hat, ohne dass die ersten Kritiken erschienen sind (die zu großen Teilen dann allerdings auch nur wenig positive Worte beinhalteten).