Wer kennt es nicht? Man kränkelt, will daher lieber nicht zum Fressgelage im Familienkreis erscheinen, weiß aber, dass es bei der Absage heißen wird: „Ach, Kind, stell dich doch nicht so an – ist doch nur ein Wehwehchen!“ Also wird die Kränkelei zur Krankheit hochgejazzt, um der Debatte zu entgehen und unkritisiert zuhause bleiben zu können.
Solche Notlügen sind mal dazu da, einem sozialen Eiertanz zu entgehen. Manchmal sollen sie verletzten Gefühlen vorbeugen. Wieder andere Male wird geflunkert, um das eigene Ego zu streicheln. Doch eines bleibt gleich: Im Hinterkopf nagt etwas am Gewissen. Die Satire „Axiom“ dreht sich um jemanden, der kein solches Gewissen zu haben scheint – und hält uns somit einen Spiegel vor. Heute, am 23. September 2024, läuft „Axiom“ ab 20.15 Uhr bei ONE. Außerdem ist der Film noch bis zum 25. Oktober 2024 in der ARD-Mediathek abrufbar.
"Axiom": Der Lügenbaron von nebenan
Julius (Moritz von Treuenfels) ist um die 30, arbeitet als Museumswärter und hat in seinem Kollegium einen guten Ruf. Schließlich ist er charmant, locker, redselig – und er hat die unfassbarsten Geschichten erlebt, weshalb er aus einem riesigen, kurzweilig-spannenden Anekdotenfundus schöpfen kann. Und lieb ist er, der Julius: Er integriert seinen neusten Kollegen Erik (Thomas Schubert) schnell und wie selbstverständlich in seinen engsten Kreis!
Dieser Kreis freut sich darauf, dass endlich der oft verschobene Segeltörn auf dem Boot von Julius' adeliger Familie ansteht. Auf dem mühseligen Weg vom Treffpunkt zum Schiff droht die Stimmung jedoch zu kippen. Nicht nur aufgrund einer spontan entbrannten Diskussion über Glauben, sondern auch, weil Julius Anlass gibt, ihm nicht mehr zu glauben, sobald er den Mund aufmacht...
Ist Julius ein pathologischer Lügner, krankhaft unfähig die Wahrheit zu sagen? Würde er gern die Wahrheit sagen, fühlt sich aber zu sehr von gesellschaftlichen Erwartungen an Karriere, sozialen Status, Finanzen und Co. zu arg unter Druck gesetzt, um die ihm peinlich erscheinende Wahrheiten auszusprechen? Ist er willens, sich zu opfern, indem er lügt und so sein wahres Ich tötet, nur um allen Anderen den zu geben, den sie wollen oder brauchen?
Oder ist Julius gar eine moderne Kreuzung aus Baron von Münchhausen und Till Eulenspiegel, ein kreativer und wortgewandter Frechdachs? Einer, der den piefig-oppressiven gesellschaftlichen Standards mit Witz und Raffinesse den Kampf angesagt hat, in dem er seine eigene Wirklichkeit erschafft?
Mit still-bissigem Witz zur Reflexion gedrängt
Regisseur und Autor Jöns Jönsson begegnet in einer Hinsicht seinem Protagonisten auf Augenhöhe: Er weigert sich, in seinem ruhig erzählten, aber immer wieder voll ins Schwarze treffenden Film, einfache und klare Antworten zu geben. Zwar enthüllt Jönsson viele von Julius' Behauptungen und Erzählungen unmissverständlich als glatte Lüge, manchmal überrascht er aber damit, dass Julius doch die Wahrheit gesagt hat – und aus dem Wie und Warum muss sich das Publikum selbst einen Reim machen.
Unsere Ausflüchte, die wir für Julius kreieren, respektive die Attacken auf ihn, die wir gedanklich zurechtlegen, dürften dabei mehr über uns selbst aussagen, als uns lieb sein sollte. Ganz davon zu schweigen, wo man sich in Julius wiedererkennt – oder Menschen, mit denen man so zu tun hat. Denn selbst, wer nie (bewusst) lügt, kreiert unentwegt eine eigene Pseudo-Wahrheit.
Vielleicht ändert man im Gegensatz zu Julius keine harten, belegbaren Fakten. Aber wir formen durch die Entscheidungen, was wir weitererzählen und was wir für uns behalten, ein verzerrtes Bild von uns. Das ist, ähnlich wie Julius' teils notgedrungene, teils vollkommen unnötige Flunkerei, in gewissem Grad gesund.
Denn wer will schon in einer Welt leben, in der man sich in der Bäckerei statt freundlicher Begrüßungsfloskeln unprovozierte, unappetitlich Wahrheiten anhören muss: „Hallo, ich habe heute Durchfall, meine Zahnbürste ist in meinen Rattenkäfig gefallen und ich klau meinem Nachbarn täglich die Amorelie-Pakete. So, jetzt aber ein Laugen-Mohn-Baguette, bitte!“?
Aber irgendwann werden die selektiven Wahrheiten eben doch unweigerlich zu Lügen – insofern hat Jönsson mit „Axiom“ auch einen starken Anti-Social-Media-Selbstdarstellungsfilm gedreht, ganz ohne das Internet in den Fokus zu rücken. Denn von Julius' geklauten Anekdoten und erlogenem Lebenslauf ist es nur ein kleiner Sprung hin zum Insta-Account, auf dem man nie ungefiltert zur Arbeit fährt, aber ständig mit perfekter Haut am Strand liegt.
Und keine Sorge: Konkrete Medienkritik gibt es auch bald wieder in geballter Kraft zu sehen – mit absoluter Starbesetzung noch dazu:
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