Darf ich vorstellen? Ihr Name ist Julie. Sie raucht, spricht offen über Sex, trinkt zu viel Alkohol und fühlt sich in der Gegenwart fremder Kinder unwohl. Doch wenn sie sich fröhlich-frei fühlt und Spaß dabei hat, hat sie in ihren Gedanken beeindruckendere Kräfte als „Matrix“-Protagonist Neo. Sie ist: „Der schlimmste Mensch der Welt“!
Rund 74.000 Menschen begeisterte der Genregrenzen hinter sich lassende Film über Julie bereits in den deutschen Kinos, weitere im Streaming sowie auf DVD und Co. – meiner Ansicht nach sind das noch lange nicht genug. Am heutigen 15. Mai 2024 kann sich das Publikum noch einmal deutlich erhöhen. Denn da feiert „Der schlimmste Mensch der Welt“ ab 20.15 Uhr bei arte seine Free-TV-Premiere. Und ich kann nur hoffen, dass Julie dort noch viel mehr Menschen erreicht als in den Lichtspielhäusern!
Darüber hinaus habt ihr weiterhin die Möglichkeit, Julies lustig-sinnlich-romantisch-dramatische Geschichte bei Amazon Prime Video als VOD zu kaufen und zu leihen:
Joachim Triers „Der schlimmste Mensch der Welt“ wurde als „Bester internationaler Film“ sowie für das „Beste Original-Drehbuch“ für den Oscar nominiert. Nachfolgend verrate ich euch, warum der Reigen aus Liebe, Leiden, Drogen, sexuellen Eskapaden, Irrungen und Wirrungen so sehenswert ist.
"Der schlimmste Mensch der Welt": Einfach unmöglich!
Julie (Renate Reinsve) glaubt, dass ihr alle Türen offen stehen und springt von Lebensentwurf zu Lebensentwurf. Dann verliebt sie sich in den zehn Jahre älteren Comicbuch-Autoren Aksel (Anders Danielsen Lie) und bekommt die Erwartungen seines Umfelds zu spüren. Mit abgebrochenen Studiengängen und einer wehrhaften Haltung gegen die Idee, Kinder zu kriegen, gelingt es ihr partout nicht, sich in Aksels Freundes- und Familienkreis zu integrieren. Als sie sich unter eine Hochzeitsgesellschaft mischt, die ihr komplett fremd ist, und dort den charmant-lockeren Eivind (Herbert Nordrum) kennenlernt, muss sie sich entscheiden: Erweist Julie sich erneut als sprunghaft, oder verharrt sie dieses Mal auf dem bereits eingeschlagenen Pfad?
Nach dem Amazon-Superhit "Als du mich sahst" müsst ihr unbedingt auch diesen Film desselben Regisseurs streamen – da heult jeder vor Glück!Wiederholt sorgte der Filmtitel für Irritation. Julie fällt zwar streitbare Entscheidungen, doch sie präsentiert sich in dieser Mischung aus RomCom, Anti-RomCom, Tragikomödie, pechschwarzem Humor und zauberhaft eingefangener Slice-of-Life-Geschichte wohl kaum als der schlimmste Mensch der Welt! Wie aber Regisseur Joachim Trier, der gemeinsam mit Eskil Vogt das Drehbuch verfasst hat, erklärte:
In seiner Heimat Norwegen schimpft man sich als schlimmsten Menschen der Welt, wenn man eine schwer nachvollziehbare oder egoistische Entscheidung trifft. Hierzulande hätte man also beispielsweise „Boah, ich bin echt unmöglich!“ als Titel nehmen können. Ein Titel, der uns unmittelbar in Julies Schuhe versetzt. Unbequeme Schuhe, die wir alle schon getragen haben, ob wir wollten oder nicht...
Ganz speziell und daher allseits bekannt
Julies späte Zwanziger und frühe Dreißiger sind ein wilder Wust aus lang gärenden Ideen, Übersprungshandlungen und unerwarteten Konsequenzen. Es geschieht zwischen Skandalcomic-Verteidigungsreden, dem Ausloten von Vertrauensbrüchen und Kummer über erfahrenen Betrug: Julie sabotiert sich. Andere. Tut Dinge, die ihr zustehen, auch wenn es ihr niemand gestattet. Sie rennt, stolpert und rutscht in ihr Glück – wenn sie sich nicht mit Zähnen und Klauen wehrt.
Renate Reinsve spielt Julie mit glühendem Charisma sowie eiskaltem Verzicht darauf, gefallen zu müssen. Julie agiert, tickt und träumt so, dass ich mich in Szenen wiederfinde, die nichts mit meinem Leben zu tun haben. Und dass ich Szenen, die meinem Leben ähneln, nicht wiedererkenne. Manchmal kommt mir alles an „Der schlimmste Mensch der Welt“ fremd vor – bis auf eine entscheidende Kleinigkeit, die ich aus völlig anderem Kontext wiedererkenne.
Es ist ein nahezu universelles Gefühl, wenn ich mir so die Reaktionen auf den Film anschaue. Mal bejubeln und verurteilen wir Julie, weil sie uns zu ähnlich ist, mal, weil sie uns zu fern ist. Oder uns an Leute erinnert, die das Leben uns angetan hat. Es bleibt derweil unvorhersehbar, welche Reaktion wann warum eintrifft.
Neu im Heimkino: Einer DER Kultfilme der 2000er und sein (fast) noch besseres Remake!Das Erfolgsgeheimnis ist, dass „Der schlimmste Mensch der Welt“ nicht etwa ein ganzes Generationsgefühl zu erklären versucht. Stattdessen führt er es an einem fiktiven, authentischen Beispiel vor. Julie gehört einer (Teil-)Generation an, die aufgrund der Vielzahl an Möglichkeiten überfordert ist, jedoch von den starren Erwartungen ihrer Mitmenschen erdrückt wird. Julie ist allerdings kein krampfhaft zurechtgebogenes Kompendium dieser Erfahrungen. Sie ist ihre ganz eigene Frau.
Sie hüpft zwischen vorbildlich, beneidenswert selbstbestimmt, selbstsüchtig und illusorisch. Sprunghaftigkeit, die sich im Laufe des Films heimisch, konsequent und wohlbegründet anfühlt. Bis sich dies ins Gegenteil verkehrt. Und dann Rolle rückwärts. All das, weil sich die Inszenierung anpasst: Julies Reise in die Geborgenheit entlang Spontaneität, Irrtümern und Ablenkungen fühlt sich mal unaufdringlich dokumentarisch an. Dann wird sie in den eleganten Schimmer einer aufwändigen Edel-Romantikkomödie gehüllt. Dann schreitet Julie durch die stillstehende Zeit, als sei sie Neos fähigere Schwester. Und ein Drogentrip wird zum surrealen Bilderrausch – mit paradox-geerdeter Wirkung.
„Der schlimmste Mensch der Welt“ ist mal wahrer als die Wirklichkeit, dann fabelhafter als ein Märchen. Fahrigkeit, so zielstrebig umgesetzt, dass sie stimmig ist. Ein Film wie seine Hauptfigur Julie. Und Julie ist unmöglich! Sie ist ein ultimativ schlechter Mensch. So wie du und ich.
Es ist ein Film, den man lieb haben muss und mit dem man feiern will, selbst wenn er gelegentlich zutiefst enttäuschte Blicke austeilt. Kein Wunder, dass er auf der Kritiken-Sammelseite RottenTomatoes aktuell bei grandiosen 96% positiver Kritiken steht...
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Dies ist eine aktualisierte Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.