Im Arthouse-Hit „Vier Minuten“ lernten wir Jenny von Loeben (Hannah Herzsprung) im Gefängnis kennen, wo ihr außergewöhnliches Musik-Talent einer alten Klavierlehrerin auffällt. Sie will Jenny unbedingt zu „Jugend musiziert“ bringen. Doch nicht nur die harten Bedingungen im Knast erschweren diesen Plan.
Im Nachfolger „15 Jahre“ (ab sofort im Kino!) hat Jenny (erneut gespielt von der grandiosen Hannah Herzsprung) nun die Zeit im Gefängnis hinter sich gelassen. Die traumatisierte Frau wird in einer christlichen Wohngemeinschaft resozialisiert, arbeitet als Putzkraft. Immer wieder bricht ihre unbändige Wut aus ihr heraus. Als sie einen alten Bekannten trifft, will der sie überreden, ihr Talent am Klavier in einer TV-Show unter Beweis zu stellen. Gemeinsam mit dem syrischen Flüchtling Omar (Hassan Akkouch) soll sie dessen Musik darbieten.
Zuerst sträubt sich Jenny, doch dann verliebt sie sich in die kraftvollen Stücke von Omar und erfährt vor allem, wer der Moderator der TV-Sendung ist: Ihre große ehemalige Liebe, die den Mord begangen hat, für den sie 15 Jahre im Knast saß. Während ihr Leben vor die Hunde ging und sie das gemeinsame Kind verloren hat, erlangte er als Pop-Star Gimmemore (Albrecht Schuch) Weltruhm. Ist es Zeit für Rache?
Im Interview zu „15 Jahre“ wollten wir von Regisseur und Drehbuchautor Chris Kraus natürlich wissen, wie es denn zu einer späten Fortsetzung kam. Dazu verrät er uns, was „15 Jahre“ vom klassischen Rachefilm unterscheidet und vor allem was für eine Herausforderung die Musik für diesen Film war. Begeisterte schon „Vier Minuten“ nicht nur mit Robert-Schumann-Interpretationen, sondern vor allem mit einem wilden neuen Klavier-Stück am Ende, geht „15 Jahre“ noch viel weiter. Verschiedenste Musikstile stellten Komponistin Annette Focks vor eine gewaltige Herausforderung. Darunter finden sich auch starke Songs, an denen Singer-Songwriter Max Prosa beteiligt war.
Es gibt als genug Gesprächsthemen für unser ausführliches Interview. Eine Information noch vorab: Um „15 Jahre“ ab sofort im Kino genießen zu können, muss man „Vier Minuten“ nicht zwingend vorher gesehen haben. Falls ihr diesen aber unbedingt vorher nachholen wollt (was angesichts der Qualität nur empfohlen werden kann), könnt ihr das aktuell recht bequem bei Netflix im Streaming-Abo tun.
FILMSTARTS: Damals bei „Vier Minuten“ hat Hannah Herzsprung ja geflunkert, was ihre Fähigkeiten am Klavier angeht, um die Rolle zu bekommen. Wer musste denn nun wen und auf welche Art überzeugen, so viele Jahre später eine Fortsetzung zu machen?
Chris Kraus: Vor fünf Jahren bin ich auf Hannah zugegangen und habe gefragt: „Ich habe da eine Idee für eine Fortsetzung zu ‚Vier Minuten‘. Hast du Lust?“ Ich musste sie nicht groß überzeugen. Wir haben uns ja nie aus den Augen verloren, sie hat in „Die Blumen von gestern“ mitgespielt, hatte ursprünglich eine kleine Rolle in „Poll“ und hat nun auch hier wieder sofort „Ja!“ gesagt – allerdings wusste sie nicht, auf welchen Wahnsinn sie sich einlässt. Denn es hat nun doch einige Jahre gedauert. Es gab immer wieder Finanzierungsprobleme und Drehterminverschiebungen. Hannah hat deshalb auch andere Projekte verloren. Doch sie blieb treu an Bord – und so sind wir gemeinsam in dieses Abenteuer gestolpert.
Trotz des Erfolgs von "Vier Minuten": "15 Jahre" war ein schwieriges Projekt!
FILMSTARTS: Dass du nun „Finanzierungsprobleme“ ansprichst, finde ich sehr interessant. Denn wenn wir einmal kurz auf den ersten Film zurückblicken. Den wollte damals ja bekanntlich niemand in Deutschland haben – und erst als er in China einen Preis gewann, wurde man auch hier plötzlich auf ihn aufmerksam …
Chris Kraus: Selbst nachdem wir in Shanghai den Hauptpreis immerhin eines A-Festivals gewonnen und den Film in 20 Länder verkauft hatten, wollte zunächst kein Verleih „Vier Minuten“ hier in die Kinos bringen. Schließlich hat sich ein ganz kleiner Verleih, Piffl, erbarmt. Damals haben mich alle gefragt: „Zwei Frauen, eine davon Lesbe, die im Knast Klavier spielen? Kein Love Interest? Eine der Figuren gefühlt 200 Jahre alt? Wer soll sich das angucken?“
FILMSTARTS: Und gerade deswegen finde ich es so interessant, dass du jetzt Finanzierungsprobleme für „15 Jahre“ ansprichst. Denn nun wissen wir ja, wie „Vier Minuten“ die Leute damals im Kino begeistert hat. Nun wissen wir ja, dass deine Hauptfigur, die Jenny, eine Person ist, die Leute im Kino so richtig mitreißen kann. Warum war es trotzdem ein schwieriges Projekt?
Chris Kraus: Damit haben wir ehrlich gesagt auch nicht gerechnet, weil ja einst viele Menschen viel Geld mit dem ersten Film verdient haben. Aber zum einen gibt es im Arthouse-Bereich Vorbehalte, wenn man noch einmal was mit derselben Figur erzählen will. Da gibt es eine gewisse Sorge vor mangelnder Originalität.
Zum anderen hat es aber auch etwas damit zu tun, dass diese Geschichte ein Musikfilm ist, Und der muss wertig erzählt werden. Und das ist halt unfassbar aufwändig. Du musst schon Jahre vorher anfangen, die Musik zu recherchieren, zu komponieren, zu produzieren und da geht auch sehr viel vom Budget rein. Daher gibt es in Deutschland relativ wenig Musikfilme. Das ist ein sehr teures Genre.
FILMSTARTS: Dazu ist euer Film in vielerlei Hinsicht deutlich größer als der Vorgänger. Er ist eine halbe Stunde länger. Ihr habt viele unterschiedliche Themen – Rache, Flucht, eine Liebesgeschichte, satirische Medienkritik. Dazu gibt es auch viel mehr verschiedene Musikstile. War das von Beginn an der Plan: „Wenn ich schon eine Fortsetzung mache, gehe ich direkt in die Vollen!“ Oder hat sich das erst im angesprochenen jahrelangen Prozess so ergeben?
Chris Kraus: Das war ein Prozess, der aber schon im Kern angelegt ist. „Vier Minuten“ war ein klassischer Duellfilm. Das hätte „15 Jahre“ nun mit der Konfrontation von der Hauptfigur Jenny und dem Antagonisten Gimmiemore auch werden können. Aber das wollte ich nicht erzählen. Ich wollte ein Melodram erzählen, das drei Figuren und mindestens auch drei verschiedene Lebenshaltungen zeigt, weswegen man – obwohl wir immer bei Jenny als Hauptfigur bleiben – multiperspektivischer arbeiten musste.
Im Kern bleibt es trotzdem eine einfache Geschichte. Im Zentrum steht die Frage, wie jemand, der aufs Schlimmste verraten wurde, mit dem Bedürfnis umgeht, Gerechtigkeit für sich wieder herzustellen – durch Rache oder durch Vergebung. Aber komplex wird es, weil die verschiedenen Wahlmöglichkeiten personifiziert sind: durch die Helferfigur Omar, durch die kirchliche Institution in Gestalt von Frau Markowski, durch Gimmiemore, der sehr zynisch durch die Welt marschiert und natürlich durch die Hauptfigur selbst. Wenn du der Hauptfigur eine Wahlmöglichkeit geben willst, dann musst du die Optionen, die sie zur Lösung ihres Problems hat, auch alle ausbreiten.
Herausragendes Kino und unbedingt sehenswert: Dieses Video stimmt euch auf "15 Jahre" mit Hannah Herzsprung einFILMSTARTS: Auch mit musikalischen Mitteln?
Chris Kraus: Genau. Hier kommen dann die unterschiedlichen Musikstile ins Spiel. Die Musik repräsentiert auch immer, für was die Menschen stehen, um die es geht. Und da diese Menschen so divers sind, haben wir nun auch diverse Musik, neben Klassik auch kirchliche Musik, arabische Songs, Punk und dann auch Popsongs im Film. denn diese repräsentieren, wie sich Jennys ehemaliger Geliebter, ein Ex-Punker, an die Industrie verkauft. Die - wie ich finde - schönste Musik ist natürlich jene, in die Jenny sich dann auch verliebt – und zwar mehr als in den Musiker: die arabische Musik von Omar.
Wenn man von außen auf all das schaut, wirkt es natürlich sehr voll. Aber der dahinter verborgene Kern ist dann doch eine sehr einfache Geschichte.
Kein Rachefilm: In "15 Jahre" geht es noch mehr ins Innere von Jenny
FILMSTARTS: … und zwar mit einem sehr klassischen Kinothema: Rache! Ich finde es sehr faszinierend, wie wenig geradlinig du gerade dieses Topos behandelst. Ich als Zuschauer hatte immer wieder so das Gefühl, dass Jenny jetzt nicht weiß, ob sie Rache will und wenn ja auf welche Weise. Wie war dein Ansatz für dieses im Kino ja schon so oft aufgegriffene Thema?
Chris Kraus: Im klassischen Rachefilm, wenn ich mal an Clint Eastwoods „Erbarmungslos“ oder „Die Braut trug schwarz“ von François Truffaut denke, ist exakt durchdekliniert, wie das nun abzulaufen hat. Doch in „15 Jahre“ geht es am Ende ja nicht um Rache, sondern um Vergebung. Rache ist sehr linear. Gewalt trifft auf Gegengewalt. Vergebung ist viel komplexer. Der Satz eines Psychologen hat mich beeindruckt: „Das Schwierige an Vergebung ist, dass sie immer unlogisch ist.“
Und das stimmt. Vergebung widerstrebt dem menschlichen Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Warum soll ich jemandem vergeben, der mir auf die linke Wange haut? Zurückhauen zu wollen ist erst einmal viel logischer.
Wir gehen mit „15 Jahre“ viel mehr ins Innere der Figur als noch bei „Vier Minuten“. Und da das Fühlen der Figur, dieses Ringen um ein mögliches Verzeihen, so überhaupt nicht geradlinig ist, ist es der Film natürlich auch nicht. So hat die Editorin zum Beispiel auch Momente eingebaut, in denen nichts passiert und man Hannah Herzsprung einfach nur beim Nachdenken sieht. Das ist emotional wichtig und gibt dem Film auch einen lyrischen, melodiösen Sound. Am Ende ist „15 Jahre“ daher dramaturgisch ganz anders gebaut als das Duell zwischen Jenny und Frau Krüger in „Vier Minuten“. Der Film war damals mit insgesamt drei verteilten Bühnen-Auftritten, der größte davon am Ende, noch sehr viel klassischer strukturiert.
FILMSTARTS: „Vier Minuten“ wäre vielleicht nicht so erfolgreich geworden, wenn die letzte Nummer nicht so mitreißen würde. Doch wie war das, als du zu deiner Komponistin Annette Focks gegangen bist und ihr gesagt hast: „Damals wollte ich von dir diese paar Stücke, alle aus ungefähr demselben Genre. Doch dieses Mal brauche ich das und das und das – und das ist alles auch noch komplett unterschiedlich.“ Hat sie da erst einmal die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen?
Chris Kraus: Es war für sie natürlich eine sehr aufregende und eine lustvolle Herausforderung. Es ist, als würdest du einem Schauspieler sagen, du kannst Faust und Mephisto gleichzeitig spielen. Aber sie hat am Ende auch nicht alles abgedeckt. Sie hat zum Beispiel sehr früh gesagt, dass Songs nicht so ihr Gebiet sind. Da waren dann auch einige weitere Komponisten involviert. Die deutschen Songs wurden von Max Prosa übernommen, den ich sehr verehre. Aber Annette ist natürlich die Hauptkomponistin, die nicht nur den Score gemacht hat. Auch ihre Stücke für Omar sind unglaublich stark.
Dabei war es ein unfassbarer Aufwand, die Musik so in ein Filmdrama zu integrieren. Das war wirklich die größte Schwierigkeit – auch genau die Musik zu finden, die wirklich exakt passt. Annette hat über einen Zeitraum von zwei Jahren bestimmt 40 Stücke für Omar komponiert, von denen dann zwei in den Film gekommen sind.
Ein grandioses Trio im Mittelpunkt
FILMSTARTS: Wenn wir schon über die beteiligten Menschen sprechen, muss ich meine letzte Frage nutzen, um kurz über Albrecht Schuch zu sprechen. Der ist ja gerade DER Schauspieler in Deutschland – überall dabei, alle wollen ihn. Wie hast du ihn an Bord bekommen, um dann auch noch diese ja sehr außergewöhnliche Figur Gimmiemore zu spielen?
Chris Kraus: Ich bin natürlich sehr froh, dass sich Albrecht für das Projekt entschieden hat. Angefragt habe ich ihn ganz schlicht über seine Agentur.
Was ich nicht wusste: Albrecht macht immer nur eine Sache gleichzeitig. Gerade hier in Deutschland sind ja viele Schauspielerinnen und Schauspieler gezwungen, drei oder vier Filme auf einmal zu produzieren. Er macht das nicht, heißt: Albrecht hat sich für die doch relativ wenigen Drehtage in unserem Film ein halbes Jahr Zeit genommen und nichts anderes dazwischenkommen lassen. Das ist schon enorm. Er bereitet sich sehr umfangreich und gut vor. Ich schreibe immer so kleine Biografien für die Figuren – das mochte er. Dieser Zeitaufwand und diese Fokussierung sind schon besonders – denn da ist ihm auch egal, ob plötzlich ein Angebot aus Hollywood kommt. Da ist er dann dem Projekt– und vor allem sich selbst – treu.
Doch ich möchte hier unbedingt auch Hassan Akkouch erwähnen. Denn neben zwei so unglaublichen Granaten wie Albrecht Schuch und Hannah Herzsprung auf Augenhöhe zu bestehen – das ist schon was. Er ist ein unglaublich begabter und auch mutiger Schauspieler. Gerade das letztere mag ich. Der Mut, sich so einer Rolle auszusetzen, ist das Wichtigste beim Spiel. Mut haben alle drei. Ich bin auf dieses Trio wirklich sehr stolz.
„15 Jahre“ läuft ab sofort im Kino. Hier ist noch einmal der Trailer.