Manchmal sind es die leiseren Mittel, die eine größere, verstörende Wirkung nach sich ziehen: „A Pure Place“ lässt sich zwar als Thrillerdrama bezeichnen, ist allerdings atmosphärisch so intensiv und erzählerisch dermaßen niederschmetternd, dass es glatt als subtiler Horrorfilm durchgeht. Und mit seinen finsteren, messerscharfen Beobachtungen bietet „A Pure Place“ sogar länger anhaltenden Schrecken als viele waschechte Horrorfilme.
Trotz seiner atemberaubenden Bilder ging der knackige 91 Minuten lange Film im Kino leider brutal baden – aber die Hoffnung, dass er sein Publikum findet, stirbt zuletzt. Jetzt ist eine ideale Gelegenheit gekommen, sich auf diesen eindrucksvollen Genre-Mix einzulassen. Denn „A Pure Place“ läuft heute, am 23. Januar 2023, ab 23.55 Uhr im ZDF.
"A Pure Place": Lichtdurchflutetes Sekten-Grauen
Die 14-jährige Irina (Greta Bohacek) und ihr Bruder Paul (Claude Heinrich) sind Teil einer Sekte, die auf einer griechischen Insel angesiedelt ist. Während Sektenführer Fust (Sam Louwyck) in einer protzigen Villa verweilt, leben die Kinder im Dreck und werden gezwungen, Seife herzustellen. Die wird von den Sektenmitgliedern als Mittel angesehen, sich körperlich und spirituell reinzuwaschen. Eines Tages wirft Fust ein Auge auf die pubertierende Irina, woraufhin er ihr gestattet, an seinem Alltag teilzuhaben. Irina ist wie berauscht – und alsbald nehmen die Dinge eine schockierende Wende...
Diese Mixtur aus Sektendrama, unterschwelligem Psychothriller und grauenerregender Parabel spielt vornehmlich an überwältigend schönen Schauplätzen. Fusts Palast ist lichtdurchflutet und prachtvoll eingerichtet. Die Insel, die seiner Sekte als Refugium dient, wird von Regisseur Nikias Chryssos und seinem Kameramann Yoshi Heimrath wiederum in derart unvorstellbar-idyllischen Bildern festgehalten, dass all diese Herrlichkeit umkippt und suspekt wird.
Horror-Sensation kommt endlich nach Deutschland: Der Trailer zu "Skinamarink" wird euch nicht schlafen lassen!In dieser dubiosen Anmut spielen sich abgeschmackte Dinge ab, die bloß auf dem ersten Blick von der Wirklichkeit entrückt scheinen: Chryssos und sein Schreibpartner Lars Henning Jung stellten intensive Recherchearbeiten an, in deren Rahmen sie sich mit der Historie von Jonestown, den Sonnentemplern und Colonia Dignidad befassten.
Weiter erlangten sie Einblicke in Scientology, trafen evangelikale Christen sowie Ex-Mitglieder der Children of God, und besuchten ein Meeting der Raelianer. Die Dynamik in letztgenannter Sekte inspirierte Chryssos und Jung enorm. In einer Hinsicht kehrten sie die Vorzeichen allerdings um: UFO-Prediger Raël mahnt seine Untergebenen, sie sollten sich möglichst selten waschen und niemals Deodorants benutzen, da man ja nie wüsste, was sich in ihnen befindet.
Der Reinheitswahn der Fust-Sekte hingegen ist Verweis darauf, dass in vielen anderen Glaubensgemeinschaften Sauberkeit als Symbol für moralische Integrität gilt. Das Storyelement dient aber auch als Bindeglied der Sektenthematik mit größeren gesellschaftlichen Problemen.
Die Sekte als verwaschener Spiegel unserer Gesellschaft
„A Pure Place“ zeigt nicht nur auf, wie in Sekten Begeisterung und erotische Aufladung instrumentalisiert werden, sondern kritisiert ebenso den alltäglichen Perfektionsdrang. Das Streben danach, mehr zu haben, einflussreicher und angesehener zu sein als andere, ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt und wird durch soziale Netzwerke nochmals verstärkt. Ebenso ist die Selbstverständlichkeit, mit der falsche Versprechungen, Doppelzüngigkeit und (Macht-)Missbrauch verwendet werden, um persönliche Ziele zu erreichen, Thema des Films.
Untermauert und verschnörkelt werden diese Beobachtungen durch Verweise auf die griechische Mythologie sowie deutsche Sagen wie die Geschichte von Drachentöter Siegfried. Das setzen Jung und Chryssos mal raffiniert um, mal grobschlächtig – das laut Chryssos jedoch mit Hintersinn, da er imitieren wollte, dass oftmals altbekannte kulturelle Versatzstücke plump in neue Glaubensinhalte gehebelt werden.
Darüber hinaus sind die beeindruckend gespielten Irina und Paul eine Art verquere Neuinterpretation von Hänsel und Gretel. Sam Louwyck gibt derweil als genussvoll mit eigenartigem Habitus agierender Sektenführer einen affektierten, neurotischen Eindruck ab.
Als Knusperhexe würde Fust elendig verhungern, doch er hat es mit Reichtum, Einfluss und vehementer Selbstbeweihräucherung im übertragenen Sinne zum Influencer geschafft. Zu einem, der für Außenstehende jämmerlich ist, sein Publikum aber mühelos-schmierig um den Finger wickelt. Und damit ist er in einer deutlich gefährlicheren Stellung als es im Knusperhaus lebende Hexen je waren.
Für alle, die nach "The Menu" Nachschlag brauchen: Dieser Kult-Klassiker ist mindestens genauso köstlich – und feiert diese Woche Heimkino-Comeback