+++ Meinung +++
Sein Debütfilm sorgte für gigantischen Wirbel: Die Filmpresse weigerte sich, über ihn zu berichten. Kinos boykottierten ihn, Rechtsradikale stürmten erzürnt jene Lichtspielhäuser, die ihn sehr wohl zeigten. Ein unvergesslicher Einstand, dem der Verantwortliche anschließend mehrfach erneut gerecht wurde. Die Rede ist von Schriftsteller, Dichter, Regisseur und Drehbuchautor Pier Paolo Pasolini, der diesen März 100 Jahre alt geworden wäre.
Obwohl er einer der berühmt-berüchtigtsten Namen des italienischen Kinos ist und auch hierzulande großes Ansehen genießt, wurde sein Schaffen im hiesigen Heimkino bislang eher stiefmütterlich behandelt. Das ändert sich nun: Denn jetzt gibt es die „Pier Paolo Pasolini Collection“, die fünf der wichtigsten Filme des Skandalkünstlers als deutsche HD-Premiere enthält. Alternativ zur Blu-ray-Variante gibt es das Set auch als DVD:
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Konkret umfasst die „Pier Paolo Pasolini Collection“ über acht Stunden Skandal-Kino, darunter vier Regiearbeiten des 1975 unter nicht vollständig geklärten Umständen ermordeten Filmemachers. Außerdem ist im Set das Dreiecks-Liebesdrama „Ostia“ enthalten. Pasolini verfasste das Drehbuch und agierte als künstlerischer Leiter, die Regie übernahm derweil Sergio Citti, einer der Darsteller von Pasolinis Debütfilm und Drehbuchautor des kontrovers diskutierten Meilensteins „Die 120 Tage von Sodom“.
Armut, Sex und Tragödien: Pier Paolo Pasolini in vier Regiearbeiten
Ganz gleich, ob ihr bisher gar keine Berührungspunkte mit Pasolini hattet, oder euch der frühere Volksschullehrer und Kolumnist bereits ein Begriff ist: Die „Pier Paolo Pasolini Collection“ ist so zusammengestellt, dass ihr in beiden Fällen sehr gut bedient seid. Denn das mit einem Begleitheft ausgestattete Boxset umfasst vier seiner wichtigsten und aussagekräftigsten Regiewerke. Damit ist es gleichermaßen ein repräsentativer und packender Einstieg in Pasolinis Schaffen, als auch ein veritables Best-of für Kenner*innen – von der offensichtlichen Ausnahme seines finalen Films „Die 120 Tage von Sodom“ abgesehen, der in Deutschland nur geschnitten eine FSK-Freigabe erhielt.
So enthält die Collection den Film, mit dem alles begann: „Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß“. Das neo-realistische Drama ist selbst für jene, die sich Pasolinis Reiz nicht erschließen können, ein regelrechtes Muss, wenn man sich auch nur minimal für Italien und/oder Nachkriegsgeschichte interessiert. Weitestgehend mit Laien gedreht, gestattet Pasolinis Debüt einen Einblick in die Lebensrealität von Vagabunden, Dieben, Zuhältern und Prostituierten in einem noch immer spürbar von den Folgen des Faschismus geschundenen Italien.
Während das Gesellschaftsbild, das Pasolini mit abrupter Filmtechnik und elegischer Tonalität einfängt, niederschmetternd und finster ist, zieht sich durch „Accattone“ ein roter Faden der Empathie für seine zentralen Figuren. Aufgewogen wird dies durch überdeutliches Unverständnis für jene, die verantwortlich für die im Film skizzierten Ungerechtigkeiten sind.
Heimkino-Highlight: Diese 10(!)-teilige Box bietet Selbstjustiz, flotte Sprüche und einen der größten Stars EuropasAußerdem enthält das Set eine von Pasolinis Dokumentationen: „Gastmahl der Liebe“. Darin folgen wir dem Regisseur auf eine rund halbjährige Reise durch sein Heimatland. Während dieses Trips befragt er Menschen auf oft bewusst-naive Weise über Sexualität. Das genügt, um komplexere Gespräche loszutreten, die zwar erstaunlich kurzweilig geraten sind, allerdings zugleich unmissverständlich klar machen, wie rückständig das Italien der frühen 1960er-Jahre in sexuellen Fragen war.
Zudem kommt die Collection mit „Große Vögel, kleine Vögel“, einem der schrulligsten Filme Pasolinis, daher. Die Fabel ist der filmische Schwanengesang des in Italien ikonischen Komödienschauspielers Totò, der ein Jahr nach den Dreharbeiten verstarb. Die für die Goldene Palme nominierte Komödie ist mit Musik des unvergesslichen Komponisten Ennio Morricone unterlegt und beginnt damit, dass der Vorspann gesungen wird – und zwar mit einer absichtlich-albernen, fast schon kindisch-nervigen Melodie.
Womöglich sind es Entscheidungen wie diese, die dazu führten, dass die groteske Komödie, in der ein Vater-Sohn-Gespann einen sprechenden Raben kennenlernt, zwar bei der Kritik stark ankam, aber an den Kinokassen eine historische Bruchlandung hinlegte.
„Edipo Re – Bett der Gewalt“, Pasolinis jüngste Regiearbeit in der Collection, rundet das Set harscher ab: Die Neuinterpretation der Ödipus-Tragödie lief in deutschen Kinos bloß in einer um mehrere Minuten geschnittenen Fassung. Auch auf Videokassette gab es „Edipo Re“ nur gekürzt zu erwerben, ebenso lief er mehrmals geschnitten im Free-TV. Erst in den 2000er-Jahren gelangte der komplette Film nach Deutschland. „Edipo Re“ ist zudem ein Sammelsurium an Einflüssen:
Pasolini verlagert die griechische Tragödie in einem der Handlungsfäden nach Italien, der Film entstand jedoch zum größten Teil in Marokko, und der Score wurde von rumänischer Folk-Musik inspiriert. Jedenfalls in den Passagen, in denen weder Mozart, noch Tango, japanische Klassik oder der traditionelle indonesische Kecak zu hören sind. Die Bildsprache des Inzest-Dramas ist genauso bunt und dynamisch wie seine Klangwelt, weshalb es Pasolinis späteres Schaffen im Set bemerkenswert-knallig repräsentiert.
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