+++ Meinung +++
Dass ein Abenteuerfilm über eine bunt zusammengewürfelte, schroffe Heldentruppe während der Filmfestspiele von Cannes läuft, ist kein Festivalalltag, aber nicht unvorstellbar. Dass ein solcher Film aber während dieses prestigeträchtigen Filmfestivals die Goldene Palme gewinnt, klingt ausgedacht – jedoch ist genau dies „Lohn der Angst“ gelungen. Und auch die FILMSTARTS-Redaktion hat der Abenteuer-Thriller von Regisseur Henri-Georges Clouzots vollauf gepackt.
In der redaktionsinternen Bestenliste der größten Abenteuerfilme aller Zeiten befindet sich die Adaption des gleichnamigen Georges-Arnaud-Romans nämlich auf einem hervorragenden vierten Platz. Darüber hinaus ist das geballte Stück Spannung über vier Männer, die zwei LKW-Ladungen Nitroglyzerin (!) transportieren, um einen Brand zu löschen (!!) ein fesselndes Psycho-Thrillerdrama, das in Deutschland lange Zeit nur gekürzt zu sehen war. Mittlerweile ist aber (zum Glück!) hierzulande der ganze Trip zu sehen.
Die besten Abenteuerfilme aller ZeitenHeute Abend, am 24. Oktober 2022, läuft „Lohn der Angst“ ab 20.15 Uhr bei arte, außerdem zeigt der Kulturkanal im Anschluss ab 22.40 Uhr die Dokumentation „Ivo Livi genannt Yves Montand“ über einen der Hauptdarsteller des Films sowie sein bewegtes Leben als Politaktivist und Frauenheld.
"Lohn der Angst": Der Dreh war selbst ein Abenteuer
Irgendwo in Zentralamerika: Die abgeschiedene Stadt Las Piedras hat sich zum Abenteurer-Treffpunkt gemausert. Zu den dort herumlungernden (Möchtegern-)Helden gehören der optimistische, aber unhöfliche Korse Mario (Yves Montand), der was mit Bardame Linda (Véra Clouzot) hat, der eiskalte französische Gangster Jo (Charles Vanel) und der verschwiegene Deutsche Bimba (Peter van Eyck). Auch der Italiener Luigi (Folco Lulli) gehört zu diesem Kreis, ist aber ein lebender Zankapfel: Einst war er Marios bester Freund, nun gehört er zu Jos engerem Umfeld, was durchaus für Zwietracht sorgt.
Als ein Ölfeld Feuer fängt, winkt diesen rauen Männern ein aufregendes Abenteuer, das großen Lohn mit sich zieht – und die Möglichkeit, sich auszusöhnen. Denn ein Ölkonzern zahlt ihnen pro Kopf 2.000 Dollar, damit sie zwei Lastwagen Nitroglyzerin beschaffen, mit denen die Firma den Brand stoppen will. Das hohe Honorar hat seine Beweggründe: Die hochgefährliche Fracht muss auf einer 500 Kilometer langen Strecke von A nach B bewegt werden – der Tod ist wahrscheinlicher als ein erfolgreiches Beenden dieser Mission...
Ab heute: Die beste & brachialste Action-Serie der Gegenwart geht endlich weiter – nach über 2 Jahren (!) Warten!„Lohn der Angst“ wurde in den frühen 1950er-Jahren mitten in unwegsamen Gebieten gedreht, in denen plötzliche, heftige Regenfälle, die das Equipment wegzuspülen drohen, noch zu den geringeren Ärgernissen zählten. Vera Clouzot musste wegen schwerer Herzprobleme zwischenzeitlich auf die Intensivstation, und wenn sie am Set war, bestand sie als größte Perfektionistin des Casts auf zahlreiche zusätzliche Takes. Es kam, wie es kommen musste: Der Dreh überstieg deutlich das ausgemachte Budget.
Allerdings ließ Clouzot ihre Beziehungen spielen, um zusätzliche Gelder zu beschaffen, so dass der Film nach einer Drehpause vollendet werden konnte. Während dieser Drehphase kam es erneut zu Unterbrechungen, bedingt von Krankheitsfällen innerhalb des Casts. Jedoch mündete all das in ein monumentales, fünfsprachiges (!) Abenteuer, das wie aus einem Guss wirkt – und dem durchweg die enorme Hingabe der Verantwortlichen anzumerken ist.
Feurig und erdrückend
Zunächst etablieren Regisseur/Autor Henri-Georges Clouzot und sein Schreibpartner Jérôme Géronimi die Hauptfiguren, indem sie ihren bewegten Alltag zeigen. Erzählerisch zusammengehalten wird dieser Part durch einen (äußerst stimmungsvoll in Szene gesetzten) zentralen Schauplatz, Lindas Kneipe. Es ist ein atmosphärischer Einstieg in den Film – und einer, der durch die zielgenaue Inszenierung und das viel Persönlichkeit aufweisende Schauspiel eine magnetische Anziehungskraft entwickelt.
Die auf den ersten Blick wie Archetypen wirkenden Figuren offenbaren nuancierte Charakterzüge, die massig Zündstoff mitbringen, noch lange, bevor das Nitroglyzerin eine inhaltliche Rolle spielt. Die Stimmung in Las Piedras steht kurz vorm Überkochen, die Weltsicht der Helden ist eine schwer zu schluckende Suppe aus Sentimentalität, Zynismus, Desillusion und Aggressivität. Wenn diese Helden während einer aufwühlenden Actionsequenz in Zweiergruppen die entflammbare Fracht transportieren, wird aus der Anziehungskraft der ersten Filmhälfte eine überwältigende, fast erdrückende Wucht.
Die Helden werden körperlich durchgerüttelt und mental geschunden, derart, dass sich die Frage aufdrängt, ob selbst ein erfolgreicher Abschluss der Mission nur zerstörte Verlierer zurücklassen wird. Es überrascht nicht, dass der Film in den USA ursprünglich aufgrund zu antikapitalistischer Inhalte um über 30 Minuten gekürzt wurde und man Nachkriegsdeutschland noch nicht die volle Ladung dieser aufreibend-niederschmetternden Geschichte zumuten wollte.
„Der Exorzist“-Regisseur William Friedkin adaptierte diesen Stoff 1977 erneut, dann unter dem Titel „Atemlos vor Angst“, Christopher Nolan wiederum studierte „Lohn der Angst“ zur Vorbereitung auf „Dunkirk“, um die Mechanismen zu verstehen, wie Clouzot Suspense erzeugt. Beides gelungene Filme, keine Frage. Doch Clouzots Meisterwerk brennt in seiner eigenen Welt.
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