In punkto Werte- und Normenveränderung ging in den 60er, 70er und 80er Jahren in weiten Teilen der westlichen Welt einiges ab: Politische Studentenproteste fegten den konservativen Muff aus Universitäten; Hippies beglückten die Welt mit Flower-Power und freier Liebe; und Punker machten die Revolte gegen das Establishment perfekt. Doch wie spielten sich all diese Umwälzungen in den kleinsten gesellschaftlichen Einheiten, in den Familien ab? Eine jener Geschichten erzählt das Drama „C.R.A.Z.Y.“ des kanadischen Regisseurs Jean Marc Vallée („Loser Love", „Los Locos – Duell der Wahnsinnigen"). Über drei Dekaden hinweg inszeniert der Film das Leben der kleinbürgerlichen Vorstadtfamilie Beaulieu in Montréal und zeigt, wie die Revolte im Stillen abläuft und wie zwei Generationen aufeinanderprallen, die in ihren Ansichten und Lebensstilen unterschiedlicher kaum sein könnten.
Genau zu Weihnachten 1960 kommt der kleine Zachary als Frühgeburt auf die Welt und ist damit der vierte von später insgesamt fünf Brüdern in der Familie Beaulieu. Die Eltern, Laurianne (Danielle Proulx) und Gervais (Michel Côté), sind überglücklich, und besonders der Vater schließt den kleinen Zac (Émile Vallée) tief in sein Herz. Er lässt ihm Freiheiten, die seinen Brüder verwehrt bleiben, nimmt Zac als Kind auf geheime Spritztouren zu einer Pommesbude mit und beschützt ihn vor der rauen Art seines größeren Bruders Raymond (Pierre-Luc Brillant). Der größte Wunsch des Vaters ist, dass aus seinem Liebling ein richtiger Mann wird. Doch zum Leidwesen des Erzeugers ist Zac anders. Er würde lieber mit Puppenwagen und Mädchen spielen. Zudem trägt der Junge mit Vorliebe das Nachhemd seiner Mutter, hängt sich deren Perlenkette um und steckt sich ihre Ohrringe an. Als der Vater dies herausfindet, bricht für ihn eine Welt zusammen und nichts ist mehr, wie es vorher war. Ein tiefer Graben spaltet Vater und Sohn, der über Jahrzehnte andauert, bis der erwachsene Zac (Marc-André Grondin) sich auf eine Reise begibt, um sich selbst und einen Platz in der Gesellschaft zu finden.
Interessant ist der Film, da mehrere Konflikte der Familie Beaulieu (Familie „Schönerort“) erörtert werden. Vordergründig ist „C.R.A.Z.Y.“ zweifelsohne ein Selbstfindungsdrama. Der Protagonist Zac wird in eine kleinbürgerliche Familie hineingeboren, in der das Familienoberhaupt der Vater ist, die Mutter hinter dem Herd steht und in der sich ein Junge wie ein Junge zu benehmen hat. Anfangs gelingt es dem Vater auch, Zac nach seiner Vorstellung zu sozialisieren. Der Film zeigt dies in wundervollen, zum Schmunzeln anregenden Bilder. So kommen Vater und Sohn nach einem gemeinsamen Ausflug kaugummikauend zurück nach Hause, wobei der Sohn das machohafte Gehabe des Vaters nachahmt. Schwieriger wird es jedoch, als Zac vom zarten Kindes- ins Teenageralter übertritt und selbstbewusster wird. Er beginnt zu rauchen, Drogen zu nehmen, und sein Musikgeschmack entfernt sich – zum Glück – immer weiter von dem des Vaters. Gekonnt inszeniert Regisseur Vallée diese musikalische Trennung. Während Gervais wie ein Besessener an seiner Plattensammlung der Country-Sängerin Patsy Cline hängt und während er zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit den selben abgenutzten Schlager singt, sind es für Zac die Ikonen der Zeit wie Pink Floyd, die Rolling Stones und David Bowie, die den Soundtrack seines Lebens beisteuern und denen er nacheifert. Sehr gefühlvoll aber keineswegs sentimental zeigt der Film wie Zac seine (Homo)Sexualität entdeckt und wie er sich nicht den üblichen Konventionen unterwerfen sondern seinen eigenen Weg finden will.
Aber der Film ist mehr als ein Coming-Out-Trip; er geht tiefer und dringt auch in andere zwischenmenschliche Beziehungen ein. So ist „C.R.A.Z.Y.“ außerdem ein Familiendrama, in dem konstant die Geschichte der Beaulieus mit vielen Höhen und Tiefen über drei Jahrzehnte hinweg verfolgt wird. Dabei gelingt dem Film die anspruchsvolle Aufgabe, die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern der Familie Beaulieu aufzubauen und über die erzählte Zeit weiterzuentwickeln. An vorderster Stelle steht hier die Beziehung zwischen dem Vater und seinem Sohn Christian (Maxime Tremblay). Obwohl er das Schwarze Schaf der Familie ist und eine Drogendealerkarriere eingeschlagen hat, wird doch deutlich, wie sehr der Vater dennoch an seinem Sohn, an seinem eigen Fleisch und Blut hängt. Auch auf die Befindlichkeiten der anderen Familienmitglieder wird eingegangen, und so lässt sich sagen, dass der Film es versteht, dem Zuschauer das interne Leben der Beaulieus nahe zu bringen.
Kleiner Wehrmutstropfen: Einige wenige Szenen im Haus der Familie tragen nicht wirklich zur Entwicklung der Geschichte bei und scheinen lediglich die Eigenschaften einiger Personen zu benutzen, um ein paar Lacher beim Publikum zu landen, die nicht so recht ins Gesamtbild passen wollen. Dafür besänftigen aber die an anderen Stellen recht humorvollen Dialoge. So wird Herr Beaulieu nach der Geburt seines fünften Sohnes von einigen Bekannten geneckt, er habe zu viel blau im „Füller“ und solle sich endlich ein Mädchen anschaffen. Einen sehenswert künstlerischen Anspruch bekommt der Film durch die poetischen Metaphern, die vor allem in den immer wiederkehrenden christlichen Bildern zu finden sind. So sind Zacs Geburtsdatum, sein Mahl im Haar und die ihm zugesprochene Begabung, Krankheiten zu heilen, Anspielungen auf das Christentum, die in Zacs Reise ins Morgenland und den dortigen Geschehnissen ihren Höhepunkt finden. Auch der ungewöhnliche Titel hat einen tieferen Sinn, der offenkundig wird, wenn man im Abspann sitzen bleibt. Das mehrfach preisgekrönte Werk – elf Auszeichnungen beim Genie Award, dem kanadischen Oscar – hinterlässt wegen des Themas, den überzeugenden schauspielerischen Leistungen und der coolen Filmmusik insgesamt einen starken Eindruck.