Mit „Rashomon” erzielte der japanische Regisseur Akira Kurosawa (1910-1998) 1950 den internationalen Durchbruch. Der Film wurde 1951 mit einem Oscar für den besten ausländischen Film ausgezeichnet.
Ein Wolkenbruch bringt einen Holzfäller (Takashi Shimura), einen Priester (Minoru Chiaki) und einen Knecht (Kichijiro Ueada) zusammen. Sie sitzen auf den Stufen eines halb verfallenen Tempels. Der Holzfäller blickt niedergeschlagen drein; der Priester scheint in Gedanken versunken zu sein. Nur der Knecht scheint ungerührt von dem, was vor kurzem geschehen ist. Da beginnt der Holzfäller ein Gespräch, scheinbar um die Zeit totzuschlagen, über den Tod des Samurai Takehiro (Masayuki Mori) im nahe gelegenen Wald der Dämonen, dem Rashomon. Doch nicht allein der Tod des Samurai, vor allem die Umstände, die dazu führten, bewegen den Holzfäller und den Priester. Denn es gibt völlig unterschiedliche Versionen über das Geschehene, die sich widersprechen.
Fest steht nur: Der Samurai wurde mit einem Schwert getötet. In der Nähe des Tatorts fand man den Hut seiner Frau Masako (Machiko Kyô) und einen Beutel. Das Paar war mit einem Pferd unterwegs und traf auf den berüchtigten Straßenräuber Tajomaru (Toshirô Mifune).
Gleich nach der Tat hatte ein Polizist (Daisuke Katô) Tajomaru festgenommen, den er des Mordes an dem Samurai beschuldigt. Tajomaru erzählt von dieser Begegnung. Der Wind habe den Schleier der Frau, die auf dem Pferd saß, einen Moment lang gelüftet, so dass er ihr schönes Gesicht gesehen habe. Er sei den beiden gefolgt und habe den Samurai unter einem Vorwand ins Gebüsch gelockt, überwältigt und gefesselt, dann die Frau dorthin gebracht und sie vor den Augen ihres Mannes vergewaltigt. Unter Tränen habe Masako gefordert, einer von beiden müsse sterben. Also habe er den Samurai losgebunden und im Zweikampf getötet. Danach sei die Frau geflüchtet.
Der Holzfäller behauptet gegenüber Priester und Knecht, diese Geschichte sei nicht wahr, ebensowenig wie die Version von Masako, die behauptet hatte, sie habe ihren Mann aus Verzweiflung nach der Vergewaltigung getötet, weil Takehiro ihr mit grenzenloser Verachtung ins Gesicht geschaut habe.
Lüge! behauptet der Holzfäller.
Auch die Geschichte des toten Samurai, dessen Stimme man über eine Geisterbeschwörerin (Fumiko Honma) gehört habe, sei falsch, der behauptet, seine Frau habe mit Tajomaru mitgehen wollen, und dann habe er sich aus Verzweiflung und Verletzung seiner Ehre selbst getötet.
Schließlich erzählt der Holzfäller seine Version der Geschichte. Um angeblich nicht in den Fall verwickelt zu werden, habe er bisher geschwiegen. Doch aus einem Versteck heraus habe er beobachtet, wie sich alles zugetragen habe ...
Kurosawa, der die Handlung im 11. Jahrhundert ansiedelt, spielt nicht nur mit den Erwartungen des Zuschauers, den Fall zu lösen; er enttäuscht in dieser Hinsicht sein Publikum. Alle vier Versionen sind plausibel, das heißt, sie könnten wahr sein. Aber es könnten auch alle falsch sein oder nur Bruchstücke von Wahrheit über das Geschehene enthalten. Möglich ist sogar, dass alle vier Personen in wesentlichen Punkten die Unwahrheit sagen, obwohl die Sympathien wohl vor allem beim armen Holzfäller liegen, der sechs Kinder zu versorgen hat.
Kurosawa lässt die Handlung in einem verfallenen Tempel beginnen. Der Wolkenbruch hat etwas Entlastendes und Beschwerendes zugleich. Er zwingt die drei zufällig zusammentreffenden Personen zum Warten und zum Innehalten, vor allem den Holzfäller, der den Druck, den die Tragik des Geschehenen verursachte, nicht mehr aushalten kann. Der niederprasselnde Regen verhindert die Flucht vor dem Ereignis, doch zugleich löst er den Zwang zur Wahrheit in die Unmöglichkeit auf, Geschehenes zu objektivieren. War es Mord, Selbstmord, Tod im Zweikampf, Verzweiflungstat? Wer waren die treibenden Kräfte, die zum Tod des Samurai führten? War es seine Frau, die die Fäden zog und ihren Mann und Tajomaru in einen von Angst und Feigheit geprägten Zweikampf trieb? War es die Ehre des Samurai? War es die Niedertracht des Straßenräubers?
Die Handlung spielt im Wald der Dämonen, der Versuchung – ein ruhiger, schöner Wald, der wie ein Wald der Ruhe, des Friedens erscheint. Friedlich ziehen Takehiro und Masako, ohne ein Wort zu sagen, durch den Wald. Vielleicht haben Masako und Takehiro etwas zu verbergen. Tajomaru liegt an einem Baum und schläft. Masakos Gesicht ist verschleiert. Tajomaru und Takehiro beobachten sich, misstrauisch, vielleicht argwöhnisch, auf jeden Fall vorsichtig.
Kurosawa lässt durch dieses Szenario keinen Zweifel daran aufkommen, dass die ganze Atmosphäre eben durch Zweifel bestimmt ist. Er belässt den Betrachter in Unwissenheit, vor allem über die Gefühle und die Gedanken der Beteiligten, eine Unwissenheit, die er mit den Versionen des Geschehenen konfrontiert. Der Wald bleibt wie er ist. Keine Dämonen sind zu sehen, keine Versuchung geht von Dämonen aus. Dann liegt in diesem Wald eine Leiche. Der Wald bleibt, wie er ist. Die Versuchung liegt im Verborgenen und im Ergebnis dessen, was geschehen ist.
Offenbar wird nur, dass alle vier Figuren ein subjektiv eindeutig bestimmbares Interesse haben, um das Geschehene aus ihrer Sicht zu erzählen. Aber selbst dies ist nicht unbedingt sicher. Dabei spielen sowohl die soziale Herkunft der drei im Tempel sitzenden Figuren und der drei Tatbeteiligten, als auch ihre (damit teilweise zusammenhängende) Mentalität eine unabdingbare Rolle. Der Priester ist ein Idealist, will nicht wahr haben, dass es „nur noch Böses” unter den Menschen gibt, hat eine ideale Wunschvorstellung vom Menschen. Der Knecht denkt ausschließlich in seinem eigenen Interesse, an sein Fortkommen. Der Holzfäller ist entsetzt über das Geschehen und zugleich enttäuscht über sich selbst, darüber, dass auch er im Augenblick des Todes an seinen Vorteil dachte. Der Samurai schildert sich als ehrenhaften, mutigen Mann, der bereit ist, sich selbst zu töten, um seine Ehre zu retten, während die Version des Holzfällers den Samurai als ängstlichen Feigling erscheinen lässt. Auch Tajomaru und Masako schildern sich in ihren Geschichten zum eigenen Vorteil.
Dass Kurosawa die Handlung in das 11. Jahrhundert verlegt, bewirkt nicht etwa eine zeitlich bedingte Entfremdung vom Geschehen. „Rashomon” ist kein „historischer Film”. Im Gegenteil: Kurosawa lässt keinen Raum für Distanzierung von der Handlung, weil er seine Charaktere als zeitlose Figuren vorstellt. Dieser Zeitlosigkeit kann sich niemand entziehen. Er zwingt den Betrachter nicht nur zum Hin-Schauen, sondern zudem zur Selbstreflexion. Welche Ereignisse gibt es im eigenen Leben, die ich aus der Erinnerung heraus so erzähle, wie ich es will, oder anders formuliert: wie es mir am günstigsten erscheint? Dabei geht es nicht so sehr um Wahrheit oder Lüge, sondern eher um (Selbst-)Interpretation des Ichs. Subjektivität bildet sich vor allem aus der erinnerten Bedeutung, die man Erlebtem in seiner Biografie zumisst. Das Kriterium für die Stichhaltigkeit dieser Bedeutungen ist nicht Wahrheit, sondern Plausibilität – sowohl bezüglich tragischer wie im Hinblick auf als positiv empfundene Ereignisse.
Weder der Samurai, noch Tajomaru oder Masako erscheinen in den vier Versionen der Geschichte als jeweils vier völlig unterschiedliche Charaktere. Ihre Mentalität, ihr Verhalten unterscheiden sich in wichtigen Punkten, aber nicht in allen. Wirklichkeit und Wahrheit konfrontiert Kurosawa – über die konkrete Handlung hinaus – mit Plausibilität und der Unmöglichkeit, Geschehenes zu objektivieren, jedenfalls nicht über magere Faktizität hinaus.
Auf die hervorragenden schauspielerischen Leistungen vor allem von Toshirô Mifune, Machiko Kyô und Takashi Shimura will ich nur kurz verweisen. Es gelingt ihnen grandios, die Figuren des Holzfällers, des Tajomaru und der Masako je nach Version des Geschehenen glaubhaft darzustellen.
„Rashomon” ist ein Klassiker der Filmgeschichte, der Fragen aufwarf, mit denen sich auch später immer wieder Regisseure beschäftigten (vgl. etwa „Memento”, 2000, mit Guy Pearce). Durch die Verlagerung der Handlung in das 11. Jahrhundert entsteht zwar ein gewisser Eindruck von Legende. Doch Kurosawa zerstört dieses Gefühl radikal im Laufe der Handlung. Er lässt dem Betrachter keinen Ausweg, sich selbst in dem Geschilderten wiederzufinden.