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    Erbarmungslos
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Erbarmungslos
    Von Ulrich Behrens

    Man könnte Clint Eastwoods „Spät“-Western „Unforgiven“ als Abgesang auf die Zeit des alten Westens vor 1900 und zugleich auf den klassischen Western als Genre ansehen. Aus einem ehemaligen Killer wird ein Schweine-Farmer; Frauen (Prostituierte) beginnen sich gegen die brutalen Übergriffe von Freiern zu wehren. Die Helden sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren oder was der Western als Illusion, wie sie gewesen sein sollen, vorgab. Man könnte „Unforgiven“ auch als eine Art Wendepunkt in Eastwoods eigenem Leben sehen. Der Held vieler Filme erscheint hier in der Gestalt eines Cowboys, der nicht mehr reiten und schießen kann; er scheint es verlernt zu haben. In einer Szene kriecht er zusammengeschlagen auf dem Boden aus einem Saloon.

    Doch „Unforgiven“ – neunmal für den Academy Award nominiert und dann mit vier Oscars ausgezeichnet – ist weit mehr, sozusagen ein Anti-Western als Western, nicht im Sinne einer Karikatur oder eines Frontalangriffs auf das Genre. Nein, Eastwood nimmt all die Klischees und gängigen Motive des Genres auf und denkt sie zu Ende, lässt die Figuren das zu Ende bringen, was in der Logik des Genres liegt. Er lässt die Handlung um die zentralen Momente (nicht nur) des Western kreisen: Korruption, Liebe, Freundschaft, Hass, Rache, Ehre, Brutalität, Macht, Selbstvertrauen, Träume und so weiter. Die Komplexität der Handlung und der Motivationen und die Konsequenz, mit der Eastwood den Western „zu Ende denkt“, lassen „Unforgiven“ zu einem realistischen, beeindruckenden Drama werden – in einer Zeit, in der niemand mehr nach dem Genre zu rufen schien.

    1880. In einem Nest namens Big Whiskey in Wyoming hat der Cowboy Quick Mike (David Mucci) im Beisein seines Freundes Davey (Rob Campbell) die Prostituierte Delilah (Anna Leine) zusammengeschlagen und im Gesicht mit einem Messer schwer verletzt. Der herbeigerufene Sheriff Little Bill Daggett (Gene Hackman) verzichtet darauf, die beiden Cowboys zu bestrafen. Das Problem ist nämlich, dass Saloonbesitzer Skinny (Anthony James) mit Delilah angesichts ihres zerschundenen Gesichts als Prostituierte nichts mehr anfangen kann. So verpflichtet Little Bill die beiden Cowboys, Skinny im Frühjahr fünf Ponys zu bringen, um den finanziellen Verlust auszugleichen. Die anderen Prostituierten, allen voran Strawberry Alice (Frances Fisher) sind wütend und beschließen, eine Belohnung für denjenigen auszusetzen, der die beiden Cowboys bestraft: natürlich mit dem Tod. Wind von dieser Sache hat auch der junge Möchtegern-Revolverheld Elroy Tate (Jaimz Woolvett), der sich großspurig nach der Marke seiner Waffe „Schofield Kid“ nennt, bekommen. Da er sich nicht allein zutraut, die beiden Cowboys aus dem Weg zu räumen, beschließt er, den Ex-Revolverhelden William Munny (Clint Eastwood) anzuheuern, der seit Jahren als Farmer auf einer kleinen Ranch mit seinen beiden Kindern lebt. Seine geliebte Frau Claudia, die ihn vom Schießen und vom Alkohol weggebracht hat, war zwei Jahre zuvor gestorben. Zunächst ist Munny wenig begeistert davon, sein friedliches Dasein aufzugeben. Das Geld allerdings, die Hälfte von 1.000 Dollar, könnte er gut gebrauchen. Und daher macht er sich auf den Weg zu seinem alten Freund und (ebenfalls) Ex-Revolverhelden Ned Logan (Morgen Freeman), um Kid zu treffen und gemeinsam die beiden Cowboys zu suchen.

    In Big Whiskey allerdings führt Sheriff Daggett ein strenges Regiment. Niemand in der Stadt darf Waffen tragen. Little Bill Daggett ist ein skrupelloser und sadistischer Mann. Der erste Killer, der dies zu spüren bekommt, ist der Engländer English Bob (Richard Harris), der ebenfalls die Belohnung der Prostituierten will ...

    Eastwood hält sich in seiner Regie und im eigenen Spiel und dem der anderen formal streng an die Regeln des Genres. Da gibt es den korrupten und sadistischen Sheriff, den alten Freund aus Killer-Tagen, die Läuterung des Ex-Killers durch die Heirat mit einer frommen Frau, den Verlust des geliebten Menschen, der den Helden davor zurückhält, aus seinem kleinkarierten Leben etwas besseres zu machen, den Helden, der irrtümlich glaubt, durch eine einmalige Rückkehr zu seinem früheren Leben seinen Kindern einen Gefallen zu tun – und so weiter.

    Doch Eastwood führt gewisse Mechanismen des Genres eben nicht in die Glorifizierung einer Welt, wie sie nie war und wie sie der klassische Western immer wieder reproduziert hat. Der Held ist keiner, die Cowboys, die Delilah verletzt haben, müssten sicherlich bestraft werden, (auch wenn einer von ihnen gar nicht Hand angelegt hatte), aber sicher nicht mit dem Tod, die Prostituierten sind angesichts der sonstigen Verhältnisse in Big Whiskey geradezu emanzipierte Frauen – und so weiter.

    Munny steht zwar im Zentrum der Handlung, aber der Anti-Held macht des öfteren Platz für die anderen Charaktere, die besonders mit Hackman, Freeman, Harris, Woolvett, Rubinek hervorragend besetzt sind. Wir sehen Menschen aus Fleisch und Blut und nicht aus dem Bilderbuch des Genres. Zudem erzählt Eastwood eine relativ komplexe und verwickelte Geschichte von Schuld und Sühne, menschlichen Eitelkeiten und Schwächen, deren Entwicklung nicht so eindeutig, geradlinig und stringent verläuft, dass eindeutige Zuweisungen von Schuld, Mitgefühl usw. möglich sind. Munny geht den Weg scheinbar konsequent bis zum bitteren Ende. Aber das bittere Ende – u.a. der Tod seiner Freundes Ned Logan, den Little Bill zu Tode peitscht und dessen Leiche er im aufgestellten Sarg öffentlich als Warnung „ausstellt“ – verkehrt die Fronten. Die Ausführung des Auftrags ist unwichtig geworden; die Rache an Little Bill rückt ins Zentrum für Munny. Eastwood spielt Munny als einen Mann, der sich nicht völlig von seiner kriminellen Vergangenheit trennen kann, der im Mittel des Mordes immer noch eine legitime Möglichkeit sieht, Gerechtigkeit zu erlangen. Ihm gegenüber steht Little Bill, der nur scheinbar auf der Seite des Gesetzes steht, der Big Whiskey zum Tatort seiner Machtgelüste werden lässt.

    Figuren wie der English Bob begleitende Schundromanschreiber Beauchamp (Saul Rubinek) können sich nur über Wasser halten, wenn sie sich auf die Seite des jeweils Stärkeren schlagen (Beauchamp schreibt über die „Heldentaten“ seiner Herren, natürlich völlig übertrieben und wahrheitswidrig). Gene Hackman, einerseits als Little Bill Daggett ein sadistischer Herrscher, erweist sich andererseits als unfähig zum „normalen“ Leben. Er baut sein Haus, aber als Schreiner ist er eine Niete. Als er in die Fänge von Munny gerät, den Tod vor Augen, weiß er nichts besseres zu sagen als: „In don’t deserve this. To die like this. I was building a house.“ „Deserve’s got nothing to do with it“, antwortet ihm Munny. Das Wechselbad aus guten Absichten, falschen Mitteln, um sie zu realisieren, und tragischen Folgen, die sie zeitigen, ist kaum in irgendeinem anderen Western derart überzeugend durch Schauspieler, Drehbuch und Inszenierung auf die Leinwand gebracht worden wie in diesem Film. Die Prostituierten wollen Gerechtigkeit: die Bestrafung der beiden Cowboys. Am Ende sind aber nicht nur die tot. Munny will das Geld nicht für sich selbst, sondern für seine Kinder. Der Tod etlicher, einschließlich seines Freundes, ist der Preis. „Schofield Kid“, der einen der beiden Cowboys erschießt, „muss“ einen Mord begehen, um zu erkennen, welcher Albtraum sein Traum vom Helden tatsächlich ist. Wer verdient hier was?

    „Unforgiven“ reproduziert in seinen Bildern die Atmosphäre des Genres. Aber der Film gehört eher zum Genre des film noir; die Stimmung ist düster, bedrohlich, kalt. Die unter anderen Umständen mögliche Liebe zwischen Munny und der verletzten Delilah muss scheitern. Platz für Liebe gibt es nicht in Big Whiskey und Umgebung. Als Munny zu seinen Kindern zurückkehrt, muss er die Tragik spüren, die in seiner Entscheidung zur Rückkehr als Killer lag.

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