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    Odessa, Odessa
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Odessa, Odessa
    Von Ulf Lepelmeier

    Die Geschichte Odessas, der am Schwarzen Meer gelegenen Hafenstadt, wurde geprägt von vielen Völker- und Konfessionsgruppen. Besonders für die Juden hat die „Perle am schwarzen Meer“ einen besonderen Stellenwert inne, war sie doch eines der kulturellen jüdischen Zentren innerhalb Europas und machten jüdische Bürger, vor der deutschen Eroberung der Stadt im Sommer 1941, etwa 20 % der Bevölkerung der Millionenstadt aus. Heute gibt Odessa das Bild einer in wirtschaftlicher Stagnation befindlichen Stadt preis, die von der Einführung des Kapitalismus nicht profitieren konnte. Nur 40.000 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde heute noch. Der Grossteil der Überlebenden der Shoa wanderte nach Israel oder Amerika aus. Michale Boganim beschäftigt sich in ihrer ersten abendfüllenden Dokumentation aber nicht mit der bewegten Geschichte der Hafenstadt oder mit der Aufarbeitung von Einzelschicksalen, sondern der Gefühlswelt der sich selbst als Exilanten sehenden Juden.

    Die israelische Regisseurin nimmt den Zuschauer mit auf eine melancholische Reise auf den Pfaden der Diaspora. Ausgangspunkt ist die einst blühende Metropole Odessa, weiter geht es nach Little Odessa, einem von russischen Emigranten bewohnten Stadtteil New Yorks, bis das dritte Ziel, eine in Israel gelegene Neubaustadt namens Aschdod, erreicht ist. Jedes Reisekapitel ist dabei in unterschiedliche, die Szenerie dominierende Farben getaucht: Die sich im Verfall befindende Hafenstadt Odessa ist in traumverlorene Blau- und Grautöne getaucht, während in New York rot und braun die Bilder dominieren und in Aschdod hauptsächlich gelb und weiß die Farbgebung bestimmen. Verbunden werden die Reise-Episoden, in denen jeweils jüdische Odessiten zu Wort kommen, durch einen stummen Mann mit Koffer, der überall auftaucht um mit sehnsüchtigem Blick in die Ferne zu schauen und damit den Wunsch aller auftretenden Personen illustriert, endlich die wahre Heimat zu finden. Denn sie alle eint das Gefühl sich im Exil zu befinden.

    Die Jugend scheint aus Odessa verschwunden zu sein um in Amerika oder Israel ihren Platz an der Sonne zu finden. Denn in der kargen, menschenleeren Stadt fängt die Kamera nur Bilder von wenigen alten Männern und vor allem Frauen ein, die diese Stadt noch bewohnen. Doch trotz trostloser Umgebung sind sie voller Lebensfreude. Sie tanzen, singen und erzählen in verklärten Erinnerungen schwelgend von den goldenen Tagen Odessas.

    In New Yorker Viertel Little Odessa intoniert eine Sängerin den Titel „Odessa, my City“. Dies ist nur eines der vielen Sehnsuchtslieder, welche Odessa als illusorischen Traumort darstellen. Die vor die Kamera tretenden Bewohner des Viertels sind sich im Tenor darüber einig, dass Amerika zwar nicht das erwartete Land des Glücks ist, dass der amerikanische Staat sich aber gut um sie kümmert. Äußerst Paradox erscheint, dass sie alle mit Inbrunst „God, bless America“ singen und die amerikanische Flagge schwenken, sich gleichzeitig aber nicht als Amerikaner sehen und wenn möglich unter sich bleiben. Sie sprechen weiterhin Russisch, lesen russische Zeitungen und suchen russische Restaurants auf. Manhattan erkunden sie, obwohl sie schon seit 20 Jahren in New York leben, wie Touristen auf einer Stadtrundfahrt. Sie alle fühlen sich in den USA als Fremdkörper und sehnen sich zurück in die Hafenstadt am schwarzen Meer. Doch der Kommentar einer Frau macht ihr aller Dilemma deutlich: „Ich habe große Sehnsucht nach Odessa. [Doch] wird das Gefühl exiliert zu sein, nachlassen, wenn ich dorthin zurückkehre?“ Die ehemaligen Odessiten träumen von einem idealisierten, nicht existenten Odessa – Odessa ist letztendlich auch nur zu einem weiteren Exil geworden.

    Auch im gelobten Land fühlen sich die ehemaligen Odessiten, die sich einen Ort erhofft hatten, in dem die Juden als Einheit und endlich ohne jegliche Diskriminierung leben können, fremd. Sie werden in Israel nicht als Juden, sondern als Russen oder auch „Das dritte Israel“ bezeichnet und leben wieder in einem Viertel unter sich. Enttäuscht fangen auch sie an sich ein märchenhaft verklärtes Bild ihres Odessas zu machen und Lieder anzustimmen, die das Glück preisen, am schwarzen Meer leben zu dürfen. Letztlich endet, der wie ein Musikstück mit immer wiederkehrendem Sehnsuchtsmotiv aufgebaute Film, natürlich am Ausgangspunkt, der einstigen Perle am Schwarzen Meer, und bringt damit noch mal unmistverständlich zum Ausdruck, dass die Suche der Exilanten nach Heimat, nach einem Stück Paradies in dieser Welt, letztlich niemals enden wird. Die einen sehnen sich nach einem irrealen, so nicht existenten Odessa. Die anderen leben an dem vermeintlich idyllischen Ort, fühlen sich aber auch wieder nur im Exil und wähnen die wahre Heimat in Amerika, Israel oder der Vergangenheit Odessas.

    Wie die Protagonisten ihre jetzige Lebenssituation fernab von der Heimatfrage sehen, oder wie sie zur gegebenen wirtschaftlichen und politischen Situation ihres Landes stehen, ob sie Ideen für eine mögliche Integrationserleichterung oder überhaupt irgendein Interesse an Integration haben, wird nicht thematisiert. Auch ob die Nachfolgegenerationen der zu Wort kommenden Personen sich noch als Exilanten fühlen oder zumindest auch einen Teil der Sehnsucht ihrer Eltern und Großeltern ebenfalls empfinden, bleibt dem Zuschauer verborgen. Nur in Israel kommt einmal eine junge Frau zu Wort und erläutert ihren Missmut darüber, dass ihre Großmutter sich nur für Geschehnisse in Russland interessiere und es nicht für nötig erachte, hebräisch zu lernen, geschweige denn sich mit der gegebenen politischen Situation in Israel auseinander zusetzen. Die alte Dame sagt dazu nur, dass sie eben nicht wie ihre Enkelin eine Israeli sei, um darauf folgend wieder von ihrem Odessa zu schwärmen.

    Boganims Dokumentation ist trotz der sich immer in Bewegung befindlichen Kamera, die nochmals das stetige Wanderungsbedürfnis der zu Wort kommenden Menschen unterstreicht, ein ruhiger Film, welche die Sehnsucht nach Heimat und die Suche nach einem idealisierten Anderswo eindrücklich illustriert, durch seinen stark retrospektiven Blick und die Nostalgietrunkenheit oftmals aber den Realitätsbezug vermissen lässt. Das Hier und Jetzt ist zwar stets in den Bildern existent, kommt aber fast überhaupt nicht zur Sprache.

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