Die großen Zeiten von ernsthaften deutschen Filmen sind lange vorbei. Komödien in allen Variationen bestimmen den tristen Kinoalltag. Doch ab und zu gibt es dennoch Ausnahmen. Andreas Dresen begeisterte mit seinem Frankfurt/Oder-Drama „Halbe Treppe“ Kritiker wie Publikum. Auf ähnliches Terrain begibt sich der bisher auf Jugendthemen festgelegte Regisseur Hans-Christian Schmid („23“, „Crazy“). Mit seinem bitteren Episoden-Drama „Lichter“ liefert er eine brillante, preisgekrönte Ost-West-Milieustudie an der Grenze zwischen Arm und Reich im deutsch-polnischen Grenzgebiet ab: Ohne Zweifel der bisher beste deutsche Film des Jahres.
Zwei Länder, zwei Orte, ein Fluss. Die Oder trennt nicht nur das deutsche Frankfurt vom polnischen Slubice, sondern ganze Welten. Menschen, egal ob arm oder reich, suchen hier ihr Glück - und stoßen dabei oft an ihre Grenzen. Zum Beispiel der junge Zigarettenschmuggler Andreas (Sebastian Urzendowsky), der durch eine unerwiderte Liebe zum Verräter wird. Oder Ingo (Devid Striesow), der Pächter eines Matratzen-Discounts, der versucht, seinen Laden mit allen Mitteln vor dem sicheren Untergang zu bewahren.
Antoni (Zbigniew Zamachowski), ein polnischer Taxifahrer, braucht dringend Geld für das Kommunionskleid seiner Tochter. Da sind Kolja (Ivan Shvedoff), Anna (Anna Janowskaja) und Dimitri (Sergej Frolov), drei Ukrainer, die um jeden Preis in den goldenen Westen wollen. Sonja (Maria Simon), eine deutsche Dolmetscherin für russische Flüchtlinge, die es einfach wagt, das Richtige zu tun, dafür am Ende aber nicht belohnt wird. Und Philip (August Diehl), ein junger Architekt aus dem Westen, der zu spät begreift, dass man für sein Glück auch Verantwortung übernehmen muss. Er bringt sich und seine polnische Ex-Freundin Beata (Julia Krynke) in Schwierigkeiten.
Hans-Christian Schmid etablierte sich nicht nur in der deutschen Kinoszene erfolgreich, sondern machte auch Stars bekannt: „Nach fünf im Urlaub“ war Franka Potentes Durchbruch, „23“ brachte August Diehl und Fabian Busch einem größeren Publikum näher und „Crazy“ verhalf Robert Stadlober zu seinem jetzigen Status. Regisseur und Autor Schmid hatte immer schon ein Gespür für Geschichten und das entsprechend feine Händchen bei der Umsetzung durch seine Schauspielriege. Mit „Lichter“ verlässt er sein angestammtes Sujet des Jugendfilms und landet in der harten Wirklichkeit der Befindlichkeiten zwischen Ost und West. In sechs Episoden, die nach und nach Anknüpfungspunkte finden, verwebt er im Stil eines Robert Altman menschliche Schicksale zu einer berührenden Geschichte, welche die Hoffnungen, Nöte und Ängste der Menschen auf beiden Seiten des großen Grenzflusses innerhalb einer Zeitspanne von 48 Stunden zeigt. Schmid geht dabei sehr behutsam vor. Die Charaktere sind nicht überzogen, fast schon zurückhaltend, aber in ihrer Intensität und Wirkung auf das Publikum kaum zu überbieten. Parallel und chronologisch entfalten sich die Geschichten, das erleichtert den Überblick, hat aber zum Nachteil, dass man von den Figuren manchmal noch mehr sehen möchte.
Bestes Beispiel ist der selbstständige Matratzenverkäufer Ingo, superb gespielt von Devid Striesow (nominiert für den Deutschen Filmpreis), der zunächst als arrogantes Arschloch etabliert wird, aber nach und nach blättert diese Fassade ab und es bleibt ein Häufchen Elend über, das beim Publikum sogar noch Mitleid hervorrufen kann. Besonders in dieser Episode keimt lakonischer, trockener Humor auf, der ein wenig an Finnlands Star-Export Aki Kaurismäki („Der Mann ohne Vergangenheit") erinnert. Ansonsten ist der Grundton von „Lichter“ ausgesprochen pessimistisch und bitter. Passend dazu ist der unaufdringliche, aber stets begleitende Score von The Notwist. Optisch schwankt der Film zwischen wackelnden, aber nicht störenden Handkameraufnahmen und teils betörenden Bildern, die im starken Kontrast zur inhaltlich gebotenen Trostlosigkeit überzeugen. Auf der Suche nach ein bisschen Glück, Geld oder der Zukunft im goldenen Westen bleiben immer andere auf der Strecke. Auch wenn die Ziele - wie beim polnischen Familienvater Antoni (tief berührend: Zbigniew Zamachowski), der seiner Tochter ein Kleid kaufen will - manchmal noch so ehrenhaft sind: Es muss immer jemand dafür bezahlen. Ein Kampf ums Überleben, es geht um die Existenz und da werden keine Kompromisse gemacht.
Bei der Auswahl seines exzellenten Ensembles hatte Schmid wieder einmal das richtige Gespür. Sein „23“-Star August Diehl taucht erst recht spät auf, liefert aber eine gewohnt starke Vorstellung ab. Als sein Traum von Beruf und Privatleben pulverisiert wird, rastet er aus und spült seine Karriere den Bach runter. Jeder der Darsteller füllt seine Rolle aus und schafft eine unglaubliche Authentizität. Daneben ragt vor allem Zbigniew Zamachowski („23“) als herzensguter Mensch, der dennoch Verrat an seinen Idealen begehen muss, heraus. Um seinem kleinen Glück nachzujagen, zieht er „noch ärmeren Säuen“ das Fell über die Ohren - und schämt sich zutiefst dafür.
Hoffnung gibt es in „Lichter“ (welche die ukrainischen Flüchtlinge in der Ferne sehen und sich im Westen wähnen, obwohl sie noch im polnischen Slubice sind) so gut wie keine. Selbst am Ende hält Schmid seine soziale Härte und Bitternis konsequent durch. Jeder steht - und kämpft - für sich allein: stehlen, betrügen, lieben und helfen, hoffen und verzweifeln. Alles auf eigene Rechnung. So manches kleine Licht der Hoffnung flackert gelegentlich auf, erlischt aber zumeist nach kurzer Zeit. Auch wenn Schmid dem Publikum ein Happy End oder auch nur ein bisschen Hoffnung verweigert, bietet er doch etwas viel besseres: den Glauben an den neuen ernsthaften, deutschen Film... Ein tief bewegendes Drama ohne Pathos, ohne falsche Moral – mit entwaffnender Ehrlichkeit vorgetragen. Ein grandioser Film.