Vor gar nicht all zu langer Zeit haben wir anlässlich unserer Kritik zu Irwin Winklers „De-Lovely“ eine erstaunliche Häufung biographischer Werke zu Beginn des noch jungen Jahres festgestellt und in den ersten drei Monaten satte sieben so genannte Biopics gezählt. Dabei ist uns allerdings ein fast unverzeihlicher Fehler unterlaufen. Ausgerechnet „Das Meer in mir“, Alejandro Amenábars ergreifende, zutiefst berührende Verfilmung des Lebens des Galiziers Ramón Sampedro, haben wir vollkommen unter den Tisch fallen lassen. Schande über unser Haupt. Aber wir geloben Besserung!
Es ist morgen. Ramón (Javier Bardem) wacht auf und verlässt sein Bett. Er schiebt es auf die Seite, weg vom Fenster, nimmt Anlauf und springt. Ramón fliegt. Er fliegt über die kleine Farm seines Bruders und die galizischen Flüsse. Er fliegt. Auf und ab, über Täler und Hügel, hinaus aufs Meer. Sein geliebtes Meer. Doch dann wacht Ramón auf. Alles ist nur ein Traum. Er liegt im Bett. Unfähig sich zu bewegen. Seit einem Unfall vor 27 Jahren ist er querschnittsgelähmt. Und seitdem hat er nur einen einzigen Wunsch: Sterben! Einfach nur in Frieden sterben und nicht zu einem Leben gezwungen werden, das ihm nicht lebenswert erscheint. Doch dafür benötigt er Hilfe. Hilfe, die ihm niemand gewähren möchte, die ihm per Gesetz niemand gewähren darf…
Der gebürtige Chilene Alejandro Amenábar ist, obwohl gerade erst 32 Jahre alt, die ganz große Nummer im spanischen Kino. Zu verdanken hat er dies dem seltenen Talent, dass er ein ebenso fähiger Regisseur wie Autor ist. Sein herausragendes Werk in den 90er Jahren war ganz ohne Zweifel „Abre los ojos“ („Open Your Eyes“). Auf diesen Film wurde auch Hollywood aufmerksam und es folgte das Remake „Vanilla Sky“ von Cameron Crowe mit Tom Cruise und seiner damaligen Lebensgefährtin Penélope Cruz in den Hauptrollen. Bei den Dreharbeiten lernte Cruise Amenábar, der oft als Berater vor Ort am Set war, kennen und vor allem schätzen. Also zückte er eben schnell seinen üppig gefüllten Geldbeutel und fungierte als Produzent bei „The Others“. Amenábars erster englischsprachiger Film mit Nicole Kidman in der Hauptrolle entwickelte sich zu einem vollen Erfolg und spielte weltweit über 200 Millionen Dollar ein. Doch danach wurde es drei Jahre lang ruhig um Amenábar.
„Das Meer in mir“ nahm erstmals konkrete Form an, als Amenábar das 1996 veröffentlichte autobiographische Werk „Cartas desde el infierno“ („Briefe aus der Hölle“) in die Hände fiel und er dadurch auf die wahre Geschichte des Ramón Sampedro aufmerksam wurde. Als Amenábar den Produzenten Fernando Bovaira mit seinem Vorhaben konfrontierte, einen Film über Ramón Sampedro drehen zu wollen, kippte dieser erst einmal aus seinen Latschen. Das Thema geplanter Suizid ist reiner Zündstoff und hätte dem gesamten Team auch mit Anlauf in die Fresse fliegen können. Doch je mehr sich Amenábar und Bovaira mit Ramón Sampedro und seinem Leben beschäftigten, desto sicherer waren sie sich, dass diese Geschichte – so brisant und heikel sie auch ist – einfach erzählt werden muss.
Der wohl größte Stolperstein bei „Das Meer in mir“ wäre gewesen, wenn sich eine generelle Botschaft wie „mit einer Querschnittslähmung ist das Leben nicht mehr lebenswert“ hinein interpretieren ließe. Vom Autor Amenábar war also jede Menge Fingerspitzengefühl gefragt, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, von diversen Interessensverbänden gesteinigt zu werden. Ein gefährlicher Drahtseilakt. Einerseits dem Publikum begreifbar machen, warum ein Mann unbedingt sterben möchte, andererseits aber auch jedwedes pauschale Urteil vermeiden. Durch einige Tricks gelingt Amenábar diese Gratwanderung auf Messers Schneide. Ganz offensichtlich wird dieses Bemühen, wenn er Ramón immer wieder feststellen lässt, dass er es verstehe, wenn sich andere an seiner Stelle anders verhalten würden, die Menschen seine eigene, ganz persönliche Entscheidung aber respektieren sollen. Es gibt aber auch subtilere Szenen. Dazu zählt beispielsweise Ramóns „Konfrontation“ mit dem katholischen Geistlichen Pater Francisco (José Pou), zwei Charaktere, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Und doch haben beide in ihren Ansichten irgendwo recht…
Auch wenn „Das Meer in mir“ ein im Grunde biographischer Film ist, beschränkt sich Amenábar nicht auf eine stoische Nacherzählung der Geschehnisse. Um dem Leben von Ramón Sampedro in lediglich 125 Leinwandminuten gerecht zu werden, waren aus dramaturgischen Gründen einige Kompromisse notwendig. Die juristischen Auseinandersetzungen werden nur am Rand angeschnitten. Diese im Detail aufzurollen, wäre für den Zuschauer ermüdend gewesen. Mit der Chronologie der Ereignisse nimmt es Amenábar ebenfalls nicht all zu genau. Der Film beschränkt sich im Grunde auf das letzte Jahr im Leben von Ramón Sampedro. Alles, was davor geschah, wird in Rückblenden und Erzählungen abgehandelt. Und auch bei den Figuren gab es hier und da leichte Variationen. Den Charakter der Julia (gespielt von einer starken Belén Rueda) hat es in dieser Form nie gegeben. In ihr werden vielmehr diverse real existierende Freunde Ramóns vereint.
Dass der Film letzten Endes so funktioniert, wie er es nun mal tut, ist jedoch einzig und allein der Verdienst eines Mannes: Hauptdarsteller Javier Bardem („Perdita Durango“, „Before Night Falls“, „Der Obrist und die Tänzerin“). Was er in „Das Meer in mir“ leistet, stellt all die singenden, weintrinkenden Lufteroberer dieser Tage in den Schatten. Es mag zunächst befremdlich wirken, einen attraktiven Schauspieler in den Dreißigern für die Rolle eine querschnittsgelähmten 50-Jährigen zu besetzen, doch dieses kalkulierte Risiko ging voll auf. Was Bardem hier leistet, ist schlicht eine Offenbarung. Nahezu einen ganzen Film über in einem Bett liegen. Sich nicht bewegen dürfen. Keine Körpersprache, keine Gesten. Die Gefühle nur mit Hilfe der Mimik zum Publikum transportieren. Das stellt selbst die besten Darsteller vor eine große Hürde. Bardem ist die Seele des Films. Mit ihm steht und fällt das ganze Gebilde. Würde er seinen Ramón nicht gleichermaßen herzensgut wie gebrochen darstellen, wäre „Das Meer in mir“ wohl allenfalls die Hälfe wert. Dass er mit dieser Glanzleistung lediglich bei den europäischen Filmpreisen beachtet wird, ist eine Schande sondergleichen…
Um es auf den Punkt zu bringen: „Das Meer in mir“ ist kein einfacher Film. Im Gegenteil. Spätestens wenn das qualvolle, schonungslose Ende gekommen ist, stellt sich der Zuschauer diverse Fragen und rutscht dabei immer tiefer in den Sessel. Fragen der unangenehmen Sorte. Fragen, die sich nicht in Kategorien wie richtig und falsch beantworten lassen. Dadurch ist „Das Meer in mir“ aber auch kein Film für Jedermann. Wer sich im Kino gerne unterhalten lassen möchte, ist hier definitiv falsch. Zwar darf auch bei „Das Meer in mir“ durchaus gelacht werden – insbesondere in den Szenen zwischen Ramón und seinem Neffen Javi (Tamar Novas) – doch im Grunde ist der Film eine Geschichte über Menschen, die vom Leben in eine außergewöhnliche Situation gebracht wurden. Poetisch und tragisch. Ein Film über Liebe, Leben und den Tod.
Ins Meer hinein, ins Meer,
in seine schwerelose Tiefe,
wo die Träume sich erfüllen,
und Zwei in einem Willen sich vereinen,
um zu stillen eine große Sehnsucht.
Ein Kuss entflammt das Leben
mit einem Blitz und einem Donner,
und sich verwandelnd
ist mein Körper nicht mehr Körper,
als Dräng ich vor zum Mittelpunkt
des Universums.
Die kindlichste Umarmung
und der reinste aller Küsse,
bis wir beide nicht mehr sind
als nur noch eine große Sehnsucht.
Dein Blick und mein Blick
wortlos hin und her geworfen,
wie ein Echo wiederholend: tiefer, tiefer,
bis weit jenseits allen Seins,
aus Fleisch und Blut und Knochen.
Doch immer wach ich auf
und immer wär ich lieber tot,
um endlos mich mit meinem Mund
in deinem Haaren zu verfangen.
Ramon Sampedro