Für große Tapetenwechsel ist Woody Allen nicht bekannt. Eine dezente Neujustierung gelang dem Intellektuellen mit der Hornbrille in jüngerer Vergangenheit über den Wechsel des Drehorts (Vicky Cristina Barcelona, Match Point), ein zeitgemäßes Gespür für kommunikative Nuancen (Anything Else) oder die geschickte formelle Variation (Sweet And Lowdown). Inhaltlich dominiert hingegen ungebrochen sein typischer, autobiografisch angehauchter Gestus - inklusive der genüsslich zelebrierten Aversion gegen alle Psychiater und Glücksritter dieser Welt. Die mediale Schattenseite: der Vorwurf der ständigen Wiederholung und die Pathologisierung des Privatmannes Allen. Doch der ließ sich zwischenzeitlich davon nicht lumpen: Mit „Harry außer sich“ schuf er 1997 ein selbstreferenzielles Werk, das die mediale Schelte geschickt zum umfassenden Sujet erhebt. Die filmische Dekonstruktion des Schreiberlings Block liest sich als abgründige Autopsie des Auteurs Allen, als ironisch zelebrierte Beichte und kreativer Befreiungsschlag, der seine kluge Relativierung bereits beinhaltet.
Schriftsteller Harry Block (Woody Allen) lässt sich von seinen Mitmenschen inspirieren. So sehr sogar, dass ihm diese aufgrund der verblüffenden Ähnlichkeit zunehmend aufs Dach steigen. Und als sei das nicht bereits genug, plagt Block seit einiger Zeit eine zermürbende Schreibblockade. Just zu diesem Zeitpunkt wird der Schriftsteller zu einer Ehrung an seine ehemalige Universität gerufen. Zusammen mit einem merkwürdigen alten Freund (Bob Balaban), einer forschen Prostituierten (Hazalle Goodman) und seinem – eigens gekidnappten – Sohn aus gescheiterter Ehe (Eric Lloyd) macht sich Harry auf den Weg. Doch zunehmend holen ihn die Eskapaden der Vergangenheit in Form seiner eigenen Geschichten ein…
So konsequent wie in „Harry außer sich“ hat Allen seine ureigenen Motive nie aufgegriffen: Es dominieren Sex, Obsession und Hysterie in schonungsloser Direktheit, der sonst so homöopathisch dosierte Holocaustwitz gerät zur Phalanx gegen den guten Geschmack. Kurz: Alles was der Stadtneurotiker für gewöhnlich in seinem charakteristisch-feinsinnigen Dialogwitz transportiert, wird konsequent ausgereizt und schließlich so weit überspitzt, dass es den Zuschauer als Voyeur entlarvt. Harry Block ist Woody Allen, ist nicht Woody Allen. Mit „Deconstructing Harry“, so der amerikanische Originaltitel, holt der viel gepriesene, aber eben auch oft und nicht immer ganz sachlich kritisierte Autorenfilmer zum Rundumschlag aus und rechnet bissig mit der Erwartungshaltung einer sensationsgierigen Öffentlichkeit ab.
Der Titel ist auch auf formeller Ebene Programm: In David-Lynch-Manier zerrt Allen Figuren, Orte, Zeit und Handlungsstränge auseinander und lässt Dialoge unversehens verebben. So werden einzelne Sequenzen gleich eines Stream of Consciousness radikal zerstückelt und durch überraschende Schnitte komprimiert. Der durch Ingmar Bergmanns Wilde Erdbeeren und Wie in einem Spiegel inspirierte Handlungsrahmen erlaubt dabei eine ungefähre Orientierung. Innerhalb dessen würfelt Allen Fakt und Fiktion aber wild durcheinander und lässt – als formelles Bonmot - den großen Robin Williams bis zur Unkenntlichkeit im Weichzeichner verschwimmen. Nach und nach tauchen Blocks fiktive Alter Egos unversehens in der scheinbaren Realwelt auf oder ersetzen ihre Konterfeis mitten im Gespräch, ohne dass dies Einfluss auf die Szene hätte. Mit dem Wechsel ihrer zeichenhaften Repräsentation zersetzt sich schließlich auch die Identität der Charaktere und wird zur symbolischen Collage.
Kirstie Alley, Elisabeth Shue, Billy Crystal oder Demi Moore – um nur einen Ausschnitt der illustren Darstellerriege zu benennen - verkörpern keine in sich stimmigen Figuren, denen das Drehbuch einen festen Platz zuweist, sondern werden zu episodischen Nemeseis Blocks. Die Zerstückelung des durchweg namhaften Casts ist die provokante Geste eines Woody Allen, der seine Rezeption permanent mitthematisiert. Ebenso schwer fällt es dann auch, eigentliche Stars zu benennen. Kirstie Alley darf als hysterische Ex-Frau und zur Intimität neigende Psychotherapeutin Joan in einer brillanten Szene regelrecht explodieren, Billy Crystal verkörpert als mit beiden Beinen im Leben stehender Heiratskandidat seiner verflossenen Liebschaft Fay (Elisabeth Shue) latent-diabolisch die eigentliche Achillesferse des Harry Block.
Aber keine Dekonstruktion ohne eine gelungene Rekonstruktion: In großartiger Allegorie auf Miltons „Paradise Lost“ fährt Harry Block schließlich in eine infernale Repräsentation seiner schöpferischen Hölle hinab, wo er auf seinen destruktiven Widersacher trifft, der ihn mit einer drastischen Einsicht konfrontiert. Hierin formuliert Allen gleichsam eine raffinierte Antithese zum Schöpfungsakt, deren Synthese in einen läuternden Schlussakkord einmündet: Die Reinigung des Schöpferischen um nichts Geringeres als des Lebens selbst. Das ist nicht nur in seinem unmittelbaren Gehalt von bestechender Klugheit, sondern beschließt einen ansonsten nur schwer zu fassenden Aufbau in einer bittersüßen Konklusion, die dem Film trotz aller Distanz eine tragikomische Intimität verleiht.
Fazit: Durch ihren postmodernen Anstrich fordert Allens vielschichtige Filmcollage den Zuschauer bis zum finalen Twist ungewohnt stark heraus – so stringent wie im artverwandten Schräger als Fiktion oder in den innovativen Drehbuchideen eines Charlie Kaufmann (Adaption, Being John Malkovich) bekommt man das Spiel mit den Wirklichkeiten lange nicht serviert. Das ist aber in seiner Radikalität durchaus so gewollt. Wer also genügend intellektuelles Sitzfleisch beweist, wird umso fürstlicher belohnt, zumal der bewährte Wortwitz pointierter denn je zuschlägt. Von kreativer Flaut oder Redundanz keine Spur: der Konter des schmächtigen New Yorkers sitzt perfekt!