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    Orly
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Orly
    Von Andreas Staben

    Flughäfen sind die ultimativen Transit-Orte unserer Zeit. Im Flugzeug lassen sich innerhalb weniger Stunden ganze Kontinente überwinden, aber davor haben die Reise- und Grenzregelungen einen oft fast genauso langen Marathon von Kontrollen und Warterei gesetzt: Am Airport ist man schon weg, aber noch nicht da. Die Absurditäten dieser territorialen und mentalen Unbestimmtheit hat Steven Spielberg in seiner klarsichtigen Komödie „Terminal" auf den Punkt gebracht, bei ihm ist der Flughafen geradezu eine Miniatur-Version einer durch Terror-Angst gelähmten Welt, die immer weiter bürokratisiert wird. Spielberg wäre nicht Spielberg, wenn sich nicht auch in diesem Umfeld eine Erzählung über individuelle Beharrlichkeit und unerschütterliche Menschlichkeit Bahn bräche. Eine solche narrative Zwangsläufigkeit und symbolische Zuspitzung ist dagegen nicht die Sache von Angela Schanelec („Marseille", „Nachmittag"), sie findet in dem Pariser Flughafen, der ihrem gänzlich undramatischen Drama „Orly" auch den Namen gibt, vielmehr den idealen Schauplatz und Gegenstand für einen wunderschön entspannten und überaus faszinierenden Film über den Reiz des Wartens und die verborgenen Spannungen des Übergangs.

    Am Pariser Flughafen Orly, die Passagiere warten auf ihre Flüge: Juliette (Natacha Régnier) möchte nach einem Familienbesuch zurück zu ihrem Mann nach Montreal, der Musikproduzent Vincent (Bruno Todeschini) setzt sich zu ihr und aus anfänglichem Small Talk wird ein sehr persönliches Gespräch. Eine Mutter (Mireille Perrier) ist mit ihrem Sohn (Emile Berling) auf dem Weg zur Beerdigung des Vaters und erzählt ihm ein Geheimnis. Einem jungen Pärchen (Jirka Zett, Lina Falkner), das längere Zeit mit dem Rucksack unterwegs war, ist dagegen ein wenig der Gesprächsstoff ausgegangen. Und Sabine (Maren Eggert) liest den Abschiedsbrief ihres Mannes Theo (Josse De Pauw).

    Das Interesse an Orten und die Lust an ihrer Beobachtung war für Angela Schanelecs Kino schon immer ein wesentlicher Antrieb, was in Filmtiteln wie „Plätze in Städten" oder „Marseille" von vornherein deutlich signalisiert wird. So stand auch bei „Orly" am Anfang einfach die Lust, diesen Flughafen und die Menschen in ihm zu filmen. Und genau dies tut sie in ihrem Film zunächst einmal. Sie platziert ihre Schauspieler wie selbstverständlich mitten im laufenden Flughafenbetrieb, sie sind Einzelne unter den Vielen. Dieser Aspekt wird durch das Filmen mit langen Brennweiten noch unterstrichen, dabei findet Schanelecs Stammkameramann Reinhold Vorschneider („Der Räuber", „Im Schatten") eine traumhafte Balance: Die Konzentration wird zwar durch die Tiefenschärfe auf die Akteure gelenkt, aber der Blick für das Ganze geht nie verloren und auch Abschweifungen bleiben jederzeit möglich. So behält dieser hochgradig komponierte und kontrollierte Film stets eine wundersame Lockerheit und Natürlichkeit.

    Ein Arbeitstitel des Films lautete „Orly, Poem 1-4" und auch wenn er etwas gestelzt klingt und daher verständlicherweise nicht beibehalten wurde, sagt er doch einiges über die Erzählweise Schanelecs. Sie hat sich nie für die konventionelle Dramaturgie interessiert, bei ihr gibt es keine psychologisierenden Erklärungen oder vorgezeichnete Charakterentwicklungen, und so sind die vier Episoden von „Orly" weitgehend unverbundene Fragmente von Geschichten, mehr Poesie als Prosa, was durch den musikalischen Klang der französischen Sprache (nur das junge Pärchen spricht Deutsch) noch unterstrichen wird. Die bruchstückhafte Erzählung passt natürlich wunderbar an einen Ort des ständigen Kommens und Gehens, aber ihr Fortschreiten ist keinesfalls dem Zufall überlassen. Gleich zu Beginn führt ein Mann am Telefon ein schmerzliches Trennungsgespräch und wenn wir am Ende im leeren Flughafengebäude, das Schanelec unter minimalem erzählerischem Vorwand wunderbar beiläufig evakuieren lässt, wieder seine Stimme hören, dann wird nicht nur eine Klammer geschlossen, sondern gleichsam die (Welt-)Bühne geräumt.

    Die Wehmut des Abschieds und die Hoffnung auf Neubeginn liegen in der Zwischenwelt von Orly ständig in der Luft, mit zärtlicher Melancholie und einem Hauch von Ironie wird dieser Zustand von Schanelec künstlerisch verdichtet. Der Übergang in die Transitwelt des Flughafens ist noch vom hektischen Hantieren mit Handys geprägt, ganz allmählich wird die Loslösung von der zurückgelassenen Außensphäre vollzogen. Und wenn Natacha Régnier („Liebe das Leben") wenig später sagt, es sei schrecklich, sich selbst zu kennen, dann bringt das die Sehnsüchte nach Neuanfang, nach einem Aus-seiner-eigenen-Haut-Können auf den Punkt. Zwischen Mutter und Sohn wird im nächsten Erzählbruchstück lange Ungesagtes ausgesprochen, aber das Unbehagen bleibt. Aber die große Freiheit, sie ist zwischendurch doch zu ahnen: Einmal erhebt sich die Kamera, sie nimmt Jirka Zett („Nachmittag") und Maren Eggert („Marseille") in der Menschenmenge in den Blick, dazu ertönt wie eine höhere Gewalt ein Song von Cat Power. Diese Fast-Begegnung ist ein magischer Moment, sie verweist auf die ganzen unerzählten Geschichten, die sich im realen Treiben neben der Filmhandlung verbergen, und markiert zugleich die Trennlinie zwischen Kunst und Leben.

    Angela Schanelecs Filme befreien den Kopf: Ganz ohne sich für vermeintliche Zuschauererwartungen zu interessieren, verfolgt sie ihren eigenen Weg und gibt dabei dem Betrachter die Freiheit zurück, Entdeckungen zu machen: „Orly" steckt voll davon.

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